Facharztwissen-HNO 689

Differenzialdiagnostik der Hörstörungen Differential Diagnosis of Hearing Disorders

A. Schulze, T. Zahnert

Zusammenfassung

Abstract

Die Beeinträchtigung des Hörvermögens ist die weltweit häufigste Funktionseinschränkung eines Sinnesorgans. WHO-Schätzungen zufolge waren 2012 weltweit 360 Mio Menschen von Hörstörungen betroffen, 91 % davon sind Erwachsene, 9 % Kinder. Hörstörungen können Folge lokal destruierender Prozesse (chronische Otitis media, Cholesteatom oder traumatisch bedingte Läsionen) oder systemischer Einflüsse wie infektiöse oder ototoxische Agenzien (Masern-, Mumpsviren, Meningokokkenmeningitis oder Medikamente und industrielle Substanzen) sein. Kongenitale Fehlbildungen, perinatale Komplikationen und genetisch bedingte Veränderungen können ebenso in Hördefiziten resultieren. Eine zunehmende ursächliche Bedeutung gewinnt die akute oder chronische übermäßig lange oder intensive Lärmbelastung, vor allem durch ein verändertes Freizeitverhalten in den Industrienationen. Um die jeweils individuell optimale Hörrehabilitation anstreben zu können, ist eine spezifische Differenzialdiagnostik unerlässlich.

Hearing impairment is considered as the most common impairment of a human sense system. According to WHO, 360 Million people worldwide were affected by hearing loss in 2012, out of which 91 % were adults and 9 % children. Hearing impairment can be triggered by various mechanisms, such as locally destructive processes (chronic otitis media, cholesteatoma or traumatic lesions) or systemic influences like infectious or ototoxic substances (measles, mumps, meningococcal meningitis or medication and industrial agents). Congenital dysplasia, perinatal complications and genetic modifications can lead to hearing loss as well. Moreover, the acute or chronic noise exposure associated with the changing spare time activities in industrial nations represents an increasingly significant source of hearing impairment. In order to achieve the best hearing rehabilitation, a specific differential diagnosis in each case is of significant importance.

Facharztwissen HNO Dieser Beitrag aus der Serie „Facharztwissen HNO“ in der Laryngo-Rhino-Otologie widmet sich dem Thema „Differenzialdiagnose Hörstörungen“. Über das Jahr verteilt erscheinen in unserer Rubrik „Facharztwissen HNO“ alle 2 Monate didaktisch aufbereitete Übersichtsartikel. Diese greifen die Hauptthemen der Kursreihe „Facharztwissen HNO“ auf, die im Wechsel an den HNO-Kliniken in Dresden, Erfurt, Jena, Leipzig, Magdeburg und Halle stattfindet (jährliche Veranstaltung der Professoren Andreas Dietz, Orlando Guntinas-Lichius, Thomas Zahnert, Dirk Eßer, Christoph Arens und Stefan Plontke).



Diese Kursreihe zielt erstrangig auf Assistenten in der Weiterbildung HNO-Heilkunde ab und soll in möglichst persönlichem Rahmen eine direkte Diskussion der Lehrinhalte im Rahmen eines interaktiven Workshops ermöglichen. Die Autoren haben sich zur Aufgabe gestellt, die Inhalte praxisgerecht mit Rücksicht auf aktuelle, wissenschaftlich belastbare Entwicklungen anzubieten. Der Inhalt des HNO-Facharztwissens unterliegt einem ständigen Fluss, sodass durch das Konsensusverfahren der 6 genannten ausgewiesenen Fachvertreter die Aktualität und Belastbarkeit des angebotenen Wissens angestrebt wird.

Schulze A, Zahnert T. Differenzialdiagnostik der … Laryngo-Rhino-Otol 2014; 93: 689–715 ∙ DOI 10.1055/s-0034-1387738 ∙ VNR: 2760512014144213112

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690 Differenzialdiagnostik der Hörstörungen

Hören ist die als selbstverständlich erachtete Basis für die Interaktion des Menschen mit seiner Umwelt und die Voraussetzung für das menschliche kommunikative Miteinander – sei es der Informations- und Gedankenaustausch im Gespräch mit all den feinen Nuancen, die Stimmungen und Sympathie widerzuspiegeln vermögen, oder aber ein Warnsignal im Verkehr. Das Hören eröffnet aber auch das Tor in die Welt der angenehmen Klänge, erinnert sei an die Musik, den Gesang der Vögel, das Rauschen der Bäume im Wind, einen plätschernden Bach … Resultierend können therapiebedürftige Beeinträchtigungen des Hörvermögens zu erheblichen Defiziten in der täglichen Kommunikation mit entsprechenden Einschränkungen im privaten und beruflichen Alltag, der sozialen Kompetenz und zum Verlust der Lebensqualität führen. Die Frage nach Möglichkeiten der Hörrehabilitation ist entscheidend von der Ursache der Hörstörung abhängig, weshalb im folgenden Artikel klinisch relevante Krankheitsbilder als Differenzialdiagnosen vorgestellt werden. Dabei wird mehr auf die spezifischen Charakteristika als Unterscheidungskriterien fokussiert, als auf vollständige Beschreibungen der Krankheitsbilder. Ausführungen über kindliche Hörstörungen müssen sich aufgrund des vorgegebenen Rahmens auf eine synoptische Darstellung beschränken und bleiben unvollständig.

40 dB in mindestens einer der Frequenzen von 0,5, 1, 2, 3 und 4 kHz nicht hören kann [1]. Die tatsächliche Anzahl der Schwerhörigen ist mit dieser Zahl jedoch nicht vollständig repräsentiert, da die laut WHO mit einer Hörschwelle ab 25 dB als geringgradig schwerhörig geltenden Personen sowie Kinder und Jugendliche in der genannten Studie nicht erfasst wurden.

Merke: Presbyakusis, Schwerhörigkeit infolge chronischer Otitis media oder eines Cholesteatoms und die Lärmschwerhörigkeit sind die häufigsten unter den permanenten Schwerhörigkeiten des Erwachsenen.

Einteilung Die Schwerhörigkeit kann nach ihrem Ausmaß, ihrer Lokalisation, ihrem zeitlichen Verlauf als passager/temporär bzw. akut/chronisch, nach ihrem Auftreten als kongenital/erworben sowie nach dem Verlauf der Hörschwelle eingeteilt werden. Die klinisch gebräuchlichste Einteilung der Schwerhörigkeit erfolgt als topografisch-funktionelle Differenzierung von Schallleitungs-, Schallempfindungs▶ Abb. 2). und Schallverarbeitungsstörung (●

Einteilung der Schwerhörigkeit nach der Lokalisation



Definition Der Begriff der Hörstörung subsummiert jede Form von Veränderung oder Einschränkung des Hörvermögens – unabhängig von Ausmaß, Qualität, Lokalisation oder ursächlicher Pathologie.

Der Begriff der Hörstörung Einer Hörstörung kann ein Fehler auf jedem Abschnitt des komplexen Hörvorganges – von peripher bis zentral – zugrunde liegen. Das mit Abstand häufigste Symptom einer Hörstörung ist die Schwerhörigkeit (Hypakusis). Seltenere Symptome sind Tinnitus, Hyperakusis, Minderung der Verständlichkeit, akustische Verzerrungen oder das fluktuierende Gehör.

Epidemiologie In Deutschland wird die Zahl der Schwerhörigen unter den über 14-Jährigen auf ca. 15,6 Millionen und damit etwa 19 % der Bevölkerung geschätzt ▶ Abb. 1). Als schwerhörig wurde dabei defi(● niert, wer einen Ton mit einer Lautstärke von

Hörstörungen können in allen Bereichen der Schallsignalleitung, -empfindung und -verarbeitung vom peripheren Hörorgan über die nachgeschalteten zentralen Stationen bis hin zum auditorischen Kortex entstehen. Entsprechend können sie nach dem ▶ Tab. 1). Ort der Störung kategorisiert werden (●

Einteilung der Schwerhörigkeit nach dem Schweregrad



Die WHO-Einteilung in die 5 Schweregrade normalhörig, gering-, mittel-, hochgradig und an Taubheit grenzend schwerhörig legt die Mittelwerte des Hörverlusts (Luftleitungsschwelle im Reintonaudiogramm) bei den Frequenzen 0,5, 1, ▶ Tab. 2). Sie bietet einen 2 und 4 kHz zugrunde (● schnellen orientierenden Überblick über das Ausmaß der Schwerhörigkeit. Unberücksichtigt bleibt das die Kommunikation beeinträchtigende Defizit in der Sprachverständlichkeit. Dieses findet in der Begutachtung Berücksichtigung, indem die Hörverluste für Zahlwörter und Einsilber bei 60, 80 und 100 dB im einfachen und gewichteten Gesamtwortverstehen nach Boenninghaus und Röser ermittelt werden. Anhand dieser Hörverluste in % ergeben sich abweichende Ein▶ Tab. 3). teilungen der Schwerhörigkeitsgrade (●

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Einleitung

Facharztwissen-HNO 691

Abb. 1 Häufigkeit verschiedener Schwerhörigkeitsgrade in Deutschland [13].

Hörreste, Taubheit

hochgradige Schwerhörigkeit 0,25 Mio. 1,12 Mio.

5,46 Mio. 8,7 Mio.

mittelgradige Schwerhörigkeit

äußeres Ohr/Mittelohr

Schallleitungsschwerhörigkeit

Cochlea/Corti-Organ

Schallempfindungsschwerhörigkeit (Syn.: sensorische SH)

zentrale Hörbahn/Hörrinde

neurale Schwerhörigkeit

zentrale Schwerhörigkeit

Abb. 2 Einteilung der Schwerhörigkeit unter dem topografischem Aspekt (mit freundlicher Genehmigung des Deutschen Ärzteblatts [2]).

Einteilung der Schwerhörigkeit nach dem Hörschwellenverlauf



Deskriptiv und den Verlauf einer Schwerhörigkeit über die Zeit gut widerspiegelnd ist die Klassifizierung von Schwerhörigkeiten nach der Art ▶ Abb. 3). So werden für die Inder Hörkurve (● nenohrhörschwelle Hörverluste nach ihrer kochleären Lokalisation als pantonal, baso- oder apikokochleär, als Abfall, Senke oder Wanne beschrieben. Liegt eine Schallleitungsschwerhörigkeit vor, kann der Frequenzverlauf der Hörschwelle be-

stimmten Funktionsstörungen des Mittelohrs zu▶ Abb. 4). Dabei wird davon geordnet werden (● ausgegangen, dass Ketten- oder Trommelfellversteifungen (z. B. bei Otosklerose) die Resonanz des Mittelohrs zu hohen und Dämpfungen (z. B. Flüssigkeit) zu niedrigen Frequenzen verschieben. Ein Schallleitungsblock entsteht bei kompletter Unterbrechung der Übertragung, und die Otosklerose hinterlässt eine typische Senke der Knochenleitung bei 2 kHz (sog. Carhart-Senke).

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geringgradige Schwerhörigkeit

692 Differenzialdiagnostik der Hörstörungen Tab. 1 Klassifizierung der Schwerhörigkeit nach dem Ort der Störung und ihrer Pathogenese. Klassifikation Schallleitungsschwerhörigkeit Schallempfindungs-, sensorische/kochleäre oder Innenohrschwerhörigkeit neurale Schwerhörigkeit zentrale Schwerhörigkeit, insbesondere auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung

Ort der Störung bzw. Pathogenese akustomechanische Einschränkung gestörte mechanoelektrische Transduktion, gestörte synaptische Umwandlung in ein Hörnervensignal innerhalb der Kochlea Dysfunktion im Bereich der nervalen Reizweiterleitung Dysfunktion von Afferenzen und Efferenzen im Bereich des auditiven Kortex

Grad der Schwerhörig-

Mittlerer Hörverlust* im

keit 0 – normalhörig

Reintonaudiogramm 25 dB oder besser

1 – geringgradige Schwerhörigkeit

26–40 dB

2 – mittelgradige Schwerhörigkeit 3 – hochgradige Schwerhörigkeit

41–60 dB

4 – Hörreste oder Taubheit

81 dB oder mehr

61–80 dB

Klinischer Befund

Empfehlung

keine oder nur leichte Probleme bei der Kommunikation, Patient kann Flüstersprache hören Umgangssprache wird 1 m vor dem Ohr verstanden

Beratung, Verlaufskontrolle, bei Schallleitungsschwerhörigkeit OP-Indikation prüfen

lautes Sprechen wird 1 m vor dem Ohr verstanden einige Worte werden bei sehr lautem Sprechen auf dem besseren Ohr verstanden keinerlei Sprachverständnis bei maximaler Lautstärke

Beratung, Hörgerät ggf. empfehlenswert, bei Schallleitungsschwerhörigkeit oder kombinierter Schwerhörigkeit ggf. operative Versorgung Hörgerät ist zu empfehlen, bei Schallleitungsschwerhörigkeit oder kombinierter Schwerhörigkeit ggf. operative Versorgung Hörgerät nötig. Falls kein Hörgerät möglich, prüfen, ob andere Hörsysteme infrage kommen (implantierbares Hörgerät, Kochleaimplantat), Lippenlesen und Zeichensprache unterstützend Hörgerätetrageversuch, bei Scheitern in der Regel heute Indikation zur Kochleaimplantation, ggf. auch Hirnstammimplantatversorgung, ergänzend ggf. Lippenlesen/Zeichensprache

*Für den mittleren Hörverlust werden für jedes Ohr getrennt die Mittelwerte des Hörverlusts aus den Frequenzen 500 Hz, 1 000 Hz, 2 000 Hz und 4 000 Hz ermittelt, modifiziert nach WHO: Grades of hearing impairment; www.who.int/pbd/deafness/hearing_impairment_grades/en/index.htm Mit freundlicher Genehmigung des Deutschen Ärzteblatts [2]

Tab. 3 Einteilung des Grads der Schwerhörigkeit in der Begutachtung: MdE/GdB/GdS und Schwerhörigkeitsgrad bei symmetrischen Hörschäden in Abhängigkeit vom prozentualen Hörverlust. Asymmetrische Schwerhörigkeiten werden gesondert eingeteilt. Hörverlust ( %) 0 < 20 20 30 40 45 50 60 65 70 80 85 90 95 100

MdE/GdB/GdS ( %) 0 < 10 10 15 20 25 30 40 45 50 60 65 70 80 80

Schwerhörigkeitsgrad Normalhörigkeit* beginnende Schwerhörigkeit knapp geringgradige Schwerhörigkeit geringgradige Schwerhörigkeit gering- bis mittelgradige Schwerhörigkeit knapp mittelgradige Schwerhörigkeit mittelgradige Schwerhörigkeit mittel- bis hochgradige Schwerhörigkeit knapp hochgradige Schwerhörigkeit hochgradige Schwerhörigkeit hochgradige Schwerhörigkeit bis an Taubheit grenzend knapp an Taubheit grenzend an Taubheit grenzend Taubheit mit Hörresten Taubheit

GdB: Grad der Behinderung; GdS: Grad der Schädigungsfolgen; MdE: Minderung der Erwerbsfähigkeit *Liegt ein lärmtypischer Hochtonschaden mit einem Hörverlust von 0 % nach dem Tonaudigramm vor, sollte dieser nicht als Normalhörigkeit, sondern als beginnende Schwerhörigkeit bezeichnet werden. Aus [3], nach [4]; 1995 adaptiert an die neue MdE-Tabelle

Schallleitungsschwerhörigkeit Ätiologie



Ursächlich ist eine akustomechanische Störung der Schallübertragung im äußeren Gehörgang, am Trommelfell oder an der Ossikelkette bzw. im Mittelohr.

Klinik



Die Symptomatik der Schallleitungsschwerhörigkeit ist von deren Ursache und dem resultierenden Frequenzverlauf abhängig. Bei Störungen im Gehörgang wird die Schallintensität insgesamt verringert, was in einer leiseren Wahrnehmung resultiert. Veränderungen auf Trommelfellniveau oder im Mittelohr führen zusätzlich zu einer

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Tab. 2 Einteilung der Schwerhörigkeit des betroffenen Ohres nach dem Schweregrad (WHO).

Facharztwissen-HNO 693

b

c

d

e

f

g

h

Veränderung der Frequenz durch Dämpfung oder Verstärkung der „Höhen“ oder „Tiefen“.

bei Verwendung einer 440-Hz-Stimmgabel ab einer Schallleitungskomponente von > 20 dB negativ.

Reintonaudiometrie Diagnostik



Stimmgabelversuch nach Weber und Rinne Die inkomplette Schallleitung führt im Stimmgabelversuch nach Weber ab etwa 15 dB zu einer einseitigen Wahrnehmung, sprich Lateralisation ins ▶ Abb. 5). Der Rinne-Versuch wird betroffene Ohr (●

Die Schallleitungsschwerhörigkeit charakterisiert sich durch differierende Verläufe von Luftleitungs- und Knochenleitungskurve. Im Allgemeinen verläuft die Knochenleitung bei der reinen Schallleitungsschwerhörigkeit bei 0 bis 10 dB (Ausnahme Carhart-Senke).

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a

Abb. 3 Klassifikation typischer audiometrischer Knochenleitungskurven, nach Reiß. a Hochtonverlust – basokochleär – mit Schrägabfall, b mit Steilabfall, c umschriebene Senke, d verbreiterte Senke, e Hochtonverlust mit Plateaubildung, f Tieftonverlust mit ansteigendem Verlauf (apikokochleärer Hörverlust), g pankochleärer Hörverlust, h mediokochleärer wannenförmiger Hörverlust [nach 15].

694 Differenzialdiagnostik der Hörstörungen

1

2

3 4

0 10 20

40 50 60 70

0,5

1

2

3 4

Frequenz in kHz 0,125 0,250 –10

6 8 10

30 40 50 60 70

80

100

90 100

110

110

110

120 130

120 130

0,125 0,250 –10

0,5

1

–10dB

3 4

0,125 0,250 –10

6 8 10

0 10

20 30 40

20

Hörpegel in dB

0 10

50 60 70 80

HV

120 130

25 % [Rö73] 5 % [Rö80]

Linkes Ohr

– 10 dB

HV

68 % [Rö73] 45 % [Rö80]

Linkes Ohr

Frequenz in kHz

e 2

6 8 10

70

90

–10dB

3 4

60

90 100

HV

2

40 50

80

Rechtes Ohr Frequenz in kHz

1

20 30

80

21 % [Rö73] 10 % [Rö80]

0,5

0 10

Hörpegel in dB

0 20 30

c

Frequenz in kHz 0,125 0,250 –10

6 8 10

Hörpegel in dB

Hörpegel in dB

0,5

10

d

Hörpegel in dB

b

Frequenz in kHz 0,125 0,250 –10

0,5

1

2

3 4

6 8 10

30 40 50 60 70 80 90

90 100

100

110 120 130

110 120 130

–10dB

HV

59 % [Rö73] 45 % [Rö80]

Linkes Ohr

–10dB

HV

76 % [Rö73] 75 % [Rö80]

Linkes Ohr

Abb. 4 Klassifikation typischer audiometrischer Schallleitungskurven. a Typ der Dämpfung mit Schallleitungs-(SL-)Komponente im Hochtonbereich, b Typ der elastischen Versteifung mit SL-Komponente in mittleren und tiefen Frequenzen, c Schallleitungsblock mit maximaler Differenz von Knochenleitung (KL) und Luftleitung (LL), d Schallleitungsschwerhörigkeit mit mittelohrbedingter Innenohrsenke (Carhart-Senke), e kombinierte Schallempfindungs- und Schallleitungsschwerhörigkeit.

Recruitment-Tests Die Recruitment-Phänomene fehlen ausnahmlos.

Stapediusreflexprüfung Das Ergebnis differiert zwischen den verschiedenen ursächlichen Pathologien des jeweiligen Schallleitungsdefizits. Generell ist die kontralaterale Auslösung maßgeblich vom Ausmaß der Schallleitungskomponente abhängig. Denn diese addiert sich zusätzlich auf die ohnehin hohe Reflexschwelle von 85–90 dB, sodass die gestatteten Auslöseschallpegel schnell überschritten werden.

Differenzialdiagnose



Schallleitungsschwerhörigkeiten können durch Pathologien an prinzipiell jedem Bestandteil des Schallleitungsapparates verursacht werden ▶ Tab. 4). (●

schwerhörigkeit des Mittelohres ist der Paukenerguss. Selbstversuche, die die Pathophysiologie des Verschlusses der Tuba Eustachii imitieren, bewiesen die Ausbildung eines Unterdrucks von 165 mmH2O im Mittelohr schon 2 Stunden nach Verschluss. Durch persistierende Tubenfunktionsstörung kommt es zur Ergussbildung im Mittelohr bis hin zur Ausbildung eines Mukotympanons (glue ear, Leimohr). Während in der Phase der Belüftungsstörung ohne Erguss ein noch gipfliges Tympanogramm (Typ C) sowie ein Schwellenabfall bis 1 kHz vorliegen (Versteifung), kommt es beim Erguss durch die Dämpfung des Trommelfells in der Tympanometrie zur Abflachung der Messkurve (Typ B) und im Audiogramm zur zusätzlichen Beteiligung der hohen Frequenzen. Diese Dämpfung bildet sich reintonaudiometrisch als Luftleitungskomponente von 30 bis maximal 40 dB im ▶ Abb. 6). Mittel- und Hochtonbereich ab (●

Schwerhörigkeit bei ohrmikroskopisch auffälligem Befund Temporäre Schallleitungsschwerhörigkeit. Die häufigste Form der temporären SchallleitungsSchulze A, Zahnert T. Differenzialdiagnostik der … Laryngo-Rhino-Otol 2014; 93: 689–715 ∙ DOI 10.1055/s-0034-1387738 ∙ VNR: 2760512014144213112

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a

Facharztwissen-HNO 695

gesund

gesund

b

Schallempfindungsschwerhörigkeit

krank

gesund

c

Schallleitungsstörung

krank

gesund

Abb. 5 Stimmgabelversuch nach Weber [5] a Mittenangabe bei Normalbefund; b Lateralisation in das gesunde Ohr bei Schallempfindungsschwerhörigkeit; c Lateralisation in das kranke Ohr bei Schallleitungsschwerhörigkeit.

Tab. 4 Übersicht verschiedener Ursachen von Schallleitungsstörungen in Abhängigkeit vom otoskopischen Trommelfellbefund. temporär

Mit pathologischem Befund Gehörgang: – Cerumen obturans – Otitis externa, Gehörgangsfurunkel – Fremdkörper – Gehörgangstumor

Ohne pathologischen Befund

Mittelohr: – akute Otitis media – Myringitis – Tubendysfunktion mit Sero-/Mukotympanon oder klaffende Tube – Laterobasisfraktur – Trommelfellverletzung permanent

Gehörgang: – Gehörgangsstenose, -atresie – Exostosen – postinflammatorische Stenose (PIMMF) Mittelohr: – chronische Otitis media mesotympanalis – Cholesteatom – Tubendysfunktion mit Mukotympanon – Implantatdislokation – Tympanosklerose – Glomus-tympanicus-Tumor

Permanente Schallleitungsschwerhörigkeit. Verlegungen des Gehörgangs wie bei der Gehörgangsatresie, ausgeprägten Exostosen oder Stenosen knöcherner oder entzündlicher Natur (z. B. postinflammatorische mediale meatale Fibrose) verursachen Schallleitungskomponenten und sind bereits bei der ohrmikroskopischen Untersuchung zu verifizieren. Stenosen des Gehörgangseingangs bzw. ein kollabierender Gehörgang fallen gelegentlich erst durch eine pathologische Impedanzmessung oder unklare Schallleitungskomponen-

Mittelohr: – Implantatdislokation – Otosklerose – Hammerkopffixation – Felsenbeintumor – aseptische Nekrose des distalen Ambossschenkels, Kettenluxation, -defekt – Mittelohrfehlbildung

ten bei gleichzeitig subjektiver Beschwerdefreiheit auf. Die häufigsten Ursachen einer permanenten Schallleitungsschwerhörigkeit bei Erwachsenen sind die chronische Otitis media mesotympanalis sowie das Cholesteatom. Durch Gewebsmassen wie Granulationen oder Cholesteatommatrix resultiert eine Dämpfung, durch Knochenarrosion eine Unterbrechung der Schallübertragung. Reintonaudiometrisch resultierende Schallleitungsdefizite können bis 50 dB erreichen. Sie korrelieren

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Normalbefund

a

696 Differenzialdiagnostik der Hörstörungen

c

ml

2

1

0 – 300

0 daPa

+200

Frequenz in kHz 1 0,125 0,250 0,5 –10

2

3 4

6 8 10

0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100 110 120 130 Rechtes Ohr

34% [Rö73]

HV 15% [Rö80]

–10 dB

Abb. 6 Chronisch seröse Otitis media. a Typischer Otoskopiebefund, b Tympanogramm Typ B [9], c Reintonaudiogramm mit hochtonbetonter Schallleitungskomponente, Dämpfungstyp.

Tab. 5 Gegenüberstellung verschiedener Differenzialdiagnosen bei ohrmikroskopisch unauffälligem Befund. Anamnese

Audiogramm

Tympanogramm Stapediusreflexe pneumatische Lupenuntersuchung

Otosklerose familiäre Häufigkeit bis 50 %, Zunahme der Schwerhörigkeit nach der Schwangerschaft, Verhältnis männl.:weibl. = 1: 3 Schallleitungsschwerhörigkeit, häufig Tieftonbereich, selten pantonal bis 40 dB, auch kombinierte SH möglich erniedrigter Typ A ausgefallen Hammergriff beweglich

Ossikelkettendefekt chronische Otitis media oder Trauma

Hammerkopffixation leer

Schallleitungsblock oder Hochtonschalleitungsschwerhörigkeit, evtl. zusätzlich Innenohrschwerhörigkeit überhöhter Typ A ausgefallen Hammergriff beweglich

pantonale Schallleitungsschwerhörigkeit

jedoch nur unzureichend mit dem Ausmaß der Zerstörung der Mittelohrmechanik. Denn Übertragungsdefekte können durch Gewebsneubildungen wie entzündliche Granulationen akustisch überbrückt werden („Cholesteatomhören“).

Schwerhörigkeit bei ohrmikroskopisch unauffälligem Trommelfellbefund Bei reizlosem Trommelfellbefund, lufthaltiger Pauke und Schallleitungskomponente sind funktionelle Beeinträchtigungen der Ossikelbeweglichkeit wie bei Otosklerose, idiopathischer Hammerkopffixierung, Kettendefekt oder -luxation oder kleinen Mittelohrfehlbildungen in Be▶ Tab. 5). tracht zu ziehen (● Seltene Differenzialdiagnosen wie eine Osteogenesis imperfecta mit frakturierten Stapesschenkeln oder ein den Steigbügel in seiner Beweglichkeit einschränkendes Fazialisneurinom können bildmorphologisch verifiziert werden. Auch ein Dehiszenzsyndrom des oberen Bogengangs mit konsekutivem Verlust der Schallenergie bildet sich als Pseudoschallleitungsschwerhörigkeit ab.

erniedrigter Typ A ausgefallen Hammergriff fixiert

Gellé-Versuch Im Rahmen des Gellé-Versuchs führt die Kompression der Luft im Gehörgang mittels Politzer-Ballon zu einer Ossikelkettenversteifung. Die via Knochenleitung wahrnehmbare Vibration einer auf den Vertex aufgesetzten Stimmgabel schwankt bei funktionell intakter Ossikelkette unter Manipulation am Politzer-Ballon entsprechend: Bei Kompression/Dekompression wechselt der Höreindruck. Bei fixierter Ossikelkette bleibt der Ton in seiner Lautstärke konstant (Gellé-negativ).

Otosklerose. Die klinische Konsequenz der Otosklerose ist eine Versteifung der Ossikelkettenbeweglichkeit durch Fixierung der Stapesfußplatte in der ovalen Nische infolge pathologischer Knochenumbauprozesse der Kochlea. Der Patient beklagt bei sonst leerer Ohranamnese eine langsam progrediente Hörminderung. Ohrmikroskopisch kann allenfalls das Schwartze-Zeichen die Verdachtsdiagnose erhärten (Promontorium ge-

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b

Hörpegel in dB

a

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0,125 0,25 –10 0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100 110

Frequenz in kHz 0,5 1 1,5 2 3 4 6 8 10

c

2

1

0 –300

0 daPa

+ 200

Abb. 7 Typische Otosklerosebefunde mit isoliertem Schallleitungsdefizit im Tieftonbereich a zu Erkrankungsbeginn, b bei Progredienz pantonale SL-SH mit Carhart-Senke bei 1,5 kHz [6] sowie c flachgipfligem Typ-A-Tympanogramm [9]. Die Carhart-Senke ist mittelohrbedingt auf einen Ausfall der osteotympanalen Knochenleitung zurückzuführen und nach operativer Wiederherstellung des Schallleitungsapparats nicht selten rückläufig.

rötet). Reintonaudiometrisch findet sich initial als Zeichen einer Kettenversteifung eine Schallleitungskomponente im tiefen und mittleren Frequenzbereich. Erst bei kompletter Ausprägung der Stapesfixierung erhöht sie sich frequenzunab▶ Abb. 7). Eine ausgeprägte hängig auf 40–50 dB (● Beteiligung der Kochlea kann zusätzlich zu einer Schallempfindungsschwerhörigkeit führen. Im Tympanogramm kann sich eine geringere Gipfelhöhe ergeben. Im Allgemeinen schwanken die Zahlenwerte für die Compliance interpersonell aber stärker, sodass ein Otosklerose-Verdacht tympanometisch nur nach interauraler Abschätzung untermauert werden kann. Die kontralateralen Stapediusreflexe des gesunden Ohres fallen abhängig vom Ausmaß der Schallleitungskomponente und damit bei initialer Tieftonschwerhörigkeit frequenzabhängig aus. Aufgrund der Stapesfixierung ist auf der erkrankten Seite der Stapediusreflex je nach Ausmaß reduziert oder ausgefallen.

Gusher-Syndrom. Auch beim selten auftretenden Gusher-Syndrom, dem sog. Drucklabyrinth, resultiert eine ausgeprägte, tieftonbetonte Schallleitungseinschränkung. Bedingt durch eine erweiterte Kommunikation des Aquaeductus cochleae mit dem Subarachnoidalraum entsteht ein Überdruck im Perilymphsystem und damit eine Bewegungseinschränkung der Stapesfußplatte. Ein nur partiell ausgefallener Stapediusreflex und ein CTmorphologisch nachweisbar erweiterter innerer Gehörgang gelten als hinweisend. Hammerkopffixation. Die idiopathische Hammerkopffixation beruht auf knöchernen Verwachsungen im Bereich der Articulatio incudomallearis, des Caput mallei und des Tegmen tym-

Abb. 8 Intraoperativer Situs einer Hammerkopffixation. ▶ Abb. 8). Die korrespondierend unter dem pani (● Siegle-Trichter (pneumatische Untersuchung) verminderte bis fehlende Beweglichkeit des Hammergriffs ist das charakteristische und einzige klinische differenzialdiagnostische Kriterium. Spezifische audiometrische Kriterien existieren nicht. Allein die hochauflösende Computertomografie (HRCT) ermöglicht die radiologische Diagnosestellung durch den Nachweis der Ossifikationen.

Ossikelkettendefekt. Eine persistierende posttraumatische Schallleitungsschwerhörigkeit sollte den Verdacht auf eine Kettenluxation lenken. Komplette Kontinuitätsunterbrechungen der Ossikelkette resultieren in einer maximal möglichen Einschränkung der Schalltransduktion mit frequenzunabhängiger Knochen-/Luftleitungs▶ Abb. 9). Auf dem differenz von 60 dB (● erkrankten Ohr fällt der ipsilaterale Stapediusreflex mechanisch bedingt aus, da die Muskelkontraktion durch die Kettenunterbrechung nicht am

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–10 0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100 110

b

ml

Hörverlust in dB HL

0,125 0,25

Frequenz in kHz 0,5 1 1,5 2 3 4 6 8 10

Hörverlust in dB HL

a

698 Differenzialdiagnostik der Hörstörungen

Frequenz in kHz

a

0,5

b

c

1 1,5 2 3 4 6 8 10

–10 0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100 110

2

ml

Hörverlust in dB HL

0,125 0,25

1

0 –300

0

+ 200

daPa

Trommelfell wirksam werden kann (Ausnahme Stapesschenkelfrakturen). Die kontralaterale Stapediusreflexauslösung ist durch die große Schallleitungskomponente nicht möglich. Häufige weitere Ursachen für einen Schallleitungsblock sind Implantatdislokationen, Fehlbildungen mit Unterbrechung der Ossikelkette und Nekrosen des langen Ambossschenkels.

Schallempfindungsschwerhörigkeit, kochleäre bzw. sensorische Schwerhörigkeit, Innenohrschwerhörigkeit Ätiologie



Die Umwandlung der mechanischen Energie (mechanoelektrische Transduktion) der endokochleären Peri- und Endolymphschwingungen erfolgt im Corti-Organ. Häufig liegt bei Schallempfindungsschwerhörigkeiten eine Störung des peripheren Rezeptororgans, speziell des CortiOrgans zu Grunde. Meist sind dabei die äußeren Haarsinneszellen betroffen. Störungen der Innenohrhomöostase mit Potenzialstörungen führen ebenfalls zur kochleären Schwerhörigkeit. Eine spezielle Form der kochleären Schwerhörigkeit ist die auditorische Synaptopathie.

Klinik



Der Ausfall der äußeren Sinneshaarzellen geht mit einem Schallempfindungsverlust von bis zu 50 dB, einer eingeschränkten Frequenzselektivität und einem Verlust des nichtlinearen Verstärkers (Recruitment) einher. Resultierend werden leise Schallereignisse nicht mehr wahrgenom-

men, laute aber unverändert, wodurch der Dynamikbereich erheblich eingeschränkt wird.

Audiometrische Charakteristika einer sensorischen Schwerhörigkeit ▶ Hörschwelle für Knochenleitung erhöht ▶ fehlende Nachweisbarkeit der transitorisch evozierten otoakustischen Emissionen (TEOAE), distorsiv produzierten otoakustischen Emissionen (DPOAE) ▶ pathologisches Recruitment ▶ herabgesetzte Unbehaglichkeitsschwelle

Diagnostik



Reintonschwellenaudiometrie Sie dient der Unterscheidung von Schallleitungsund Schallempfindungsschwerhörigkeit.

Sprachaudiometrie Bei hochtonbetonten Innenohrschwerhörigkeiten ist der Hörverlust für Zahlwörter im Sprachaudiogramm selten pathologisch, die 100 %ige Einsilberverständlichkeit hingegen wird meist erst bei hohen Schallpegeln erreicht. Pankochleäre Hörverluste führen auch zu einer Verschiebung der Mehrsilberverständlichkeit zu höheren Schallpegeln hin. Im Gegensatz zur Mittelohrschwerhörigkeit verlieren die Ein- und Mehrsilberkurven sowohl ihre Steilheit als auch ihren charakteristischen Abstand.

Überschwellige Tests und otoakustische Emissionen Durch subjektive audiometrische Methoden ▶ Tab. 6) kann die Funktion der Sinneshaarzel(● len der Kochlea geprüft werden. Die Prüfung der otoakustischen Emissionen erlaubt den objektiven Beweis einer gestörten Sinneszellfunktion. Die TEOAEs sind ab einem kochleären Schaden

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Abb. 9 Typische Befunde bei Ossikelkettenunterbrechung. a Schallleitungsblock [6], b pathognomonisch hohe bis formatsprengende Gipfel bei der Impedanzmessung [9], c CT-morphologische Hammer-Amboss-Luxation.

Facharztwissen-HNO 699

Tab. 6 Übersicht der überschwelligen Diagnostik-/Recruitment-Tests. Test Fowler-Test

Prinzip interauraler Vergleich der Lautheit

SISI (Short Increment Sensitivity Index) Lüscher-Test

Messung der Empfindlichkeit für Intensitätsschwankungen von 1 dB Messung der Intensitätsunterschiedsschwelle

Durchführung Ton im Wechseltakt 20, 40 und 60 dB über der Schwelle bei einer Frequenz mit Seitenunterschied von 30 dB Anbieten von Pegelerhöhungen von 1 dB bei einer Frequenz mit mind. 40 dB Knochenleitungsabfall Angebot von Pegelschwankungen von 5, 4, 3, 2, 1 und < 1 dB

Recruitment-positiv beim höchsten Testpegel identisches Lautheitsempfinden interaural mindestens 60 % der Pegelsprünge erkannt

Voraussetzung – nur bei deutlicher InnenohrSeitendifferenz durchführbar – Hörverlust im besseren Ohr < 30 dB – Hörverlust > 40 dB

– Pegeländerungen von 1 dB oder < 1 dB erkannt;

akustisch Knalltrauma Explosionstrauma Lärmtrauma akustischer Unfall

mechanisch

elektrisch

Barotrauma Contusio labyrinthi Perilymphfistel

elektrischer Unfall Blitzschlag

infektiöstoxisch

vaskulär Labyrinthapoplex

bakteriell viral medikamentös gewerblich toxisch

andere Hörsturz traumatisch Aggravation psychogen

Abb. 10 Übersicht der Ursachen akuter Schallempfindungsschwerhörigkeiten.

von 30 dB nicht mehr nachweisbar. Die Distorsionsprodukte (DPOAE) liefern zusätzlich frequenzspezifische und quantitative Aussagen bis 50 dB Hörverlust.

Recruitment-positive Hörstörungen Recruitment-positiv sind Hörstörungen, die im peripheren Rezeptororgan (Corti-Organ) entstehen. Die Patienten hören leise Töne durch den ursächlichen Ausfall der verstärkenden äußeren Sinneshaarzellen schlecht. Die Wahrnehmung lauter Töne ab 50–60 dB, für die der Ausfall der Verstärkerfunktion unerheblich ist, bleibt kaum beeinträchtigt. Der Recruitment-positiv Schwerhörige bittet seinen Gesprächspartner ab diesem Pegel „nicht so zu schreien“.

Stapediusreflex Die Schädigung der äußeren Haarzellen hat kaum Auswirkungen auf das Wahrnehmen lauter Schallpegel (Lautheitsausgleich), wie für die Stapediusreflexauslösung ohnehin notwendig. Eine Innenohrschwerhörigkeit bis 50 dB beein-

flusst die Reflexschwelle daher nicht. Erst bei Hörverlusten darüber hinaus steigt die Reflexschwelle entsprechend an. Bei Hochtonschwerhörigkeit können folglich normale Reflexschwellen bei 1 und 2 kHz vorliegen.

Differenzialdiagnose



Akute Schallempfindungsschwerhörigkeit Akute kochleäre Hörstörungen können verschie▶ Abb. 10) haben. dene Ursachen (●

Akute akustische Innenohrschädigung. Überlastungen des Innenohrs durch Schalleinwirkung können je nach Ausmaß zu strukturellen oder funktionellen Schäden an den äußeren Haarzellen führen. Wesentlich für die Diagnose ist die Anamnese mit Abschätzung der Schallbelastung. Lärmbelastungen bis 120 dB führen typischerweise zu einer sofortigen Schallempfindungsschwerhörigkeit mit einer Senke bzw. einem Hochtonabfall der Hörschwelle zwischen 3 und 6 kHz, vorrangig bei 4 kHz („c5-Senke“). Die Hörminderung erholt sich in der Regel innerhalb von Stunden, Temporary Threshold Shift (TTS) ge-

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bei neuralem Hörschaden Schwankungen erst ab 2–3 dB erkennbar

700 Differenzialdiagnostik der Hörstörungen

Frequenz in kHz 0,5

1

Frequenz in kHz 2

3 4

6 8 10

0,125 0,250 –10

0 10

0 10

20 30

20

Hörpegel in dB

Hörpegel in dB

0,125 0,250 –10

40 50 60

90 100 110 120 130 – 10dB

nannt. OAEs sind als Zeichen der Schädigung der äußeren Haarzellen im betroffenen Frequenzbereich negativ, das Recruitment ist positiv. Ein Tinnitus wird fast immer im Frequenzbereich der Schädigung angegeben. Als Knalltrauma wird die plötzliche Schallbelastung des Ohres mit Schalldruckpegeln > 140 dB und einem sehr kurzem Druckanstieg < 1,5 ms definiert (Knallkörper, Airbag). Das Explosions▶ Abb. 11) unterscheidet sich durch trauma (● eine Schalldruckwelle mit Druckanstieg > 2 ms bei gleichem Schalldruckpegel. Die verursachte Druckwelle kann zur Trommelfellruptur führen, ggf. auch eine Ossikelkettenluxation oder Rundfenstermembranruptur verursachen. Merke: Klinisch erfolgt die Einteilung von Knallund Explosionstrauma nach der Anamnese und dem Vorliegen einer Trommelfellperforation. Als akutes Lärmtrauma wird die Sekunden (Düsentriebwerk) bis Stunden (Musikkonzert) andauernde Belastung des Ohres mit hohen Schalldruckpegeln um 100 dB bezeichnet. Die resultierende akute Lärmschwerhörigkeit ist zumeist reversibel (TTS). Bei länger andauernder oder wiederholter Belastung kann ein irreversibler Haarzellschaden zunächst der äußeren, später auch der inneren Haarzellen infolge einer metabolisch-hypoxischen Dekompensation entstehen. Es besteht eine Lärmdosis-Schadens-Beziehung, in die neben dem Schallpegel die Expositionszeit eingeht. Allerdings ist die individuelle Lärmempfindlichkeit verschieden. Treffen mittlere Lärmpegel zwischen 90 und 120 dB und die zeitgleiche halswirbelsäulenbedingte Minderperfusion der A. labyrinthi (Lärmarbeit in ungünstiger Körperhaltung mit Torquierung der HWS) zusammen, spricht man vom akustischen Unfall.

3 4

6 8 10

60

90 100 110 120 130

31 % [Rö73] 20 % [Rö80]

2

40 50 70 80

HV

1

30

70 80

Rechtes Ohr

0,5

–10dB HV

72 % [Rö73] 90 % [Rö80]

Linkes Ohr

Akute mechanische Innenohrschädigung. Erschütterungen bei stumpfem Schädeltrauma können als Commotio oder Contusio labyrinthi durch metabolische Störungen oder Strukturverletzungen der äußeren Haarzellen zu einer meist hochtonbetonten Innenohrschwerhörigkeit (4 kHz) führen. Eine auch nach Resorption eines Hämatotympanons bestehende Schallleitungskomponente sollte an eine begleitende Ossikelkettenluxation denken lassen. Eine direkte Schädigung des Innenohrs bei Schläfenbeinfraktur mit Verlauf der Frakturzone durch das Labyrinth oder den inneren Gehörgang (Felsenbeinquerfraktur) führt zur Surditas mit heftigem Drehschwindel und häufig auch Fazialisparese. Das Barotrauma des Mittelohrs beim Tauchen oder auf Flugreisen führt aufgrund einer relativen Druckdysbalance zwischen Mittelohr und Umgebung eher zu Schallleitungsproblemen durch Impedanzänderung, Hämatotympanon oder in seltenen Fällen Trommelfellrupturen. Den Verdacht auf eine Perilymphfistel durch Ruptur der Rundfenstermembran lenken anamnestische Hinweise wie das Heben schwerer Lasten oder ein stumpfes Schädeltrauma. Neben der mechanischen Ruptur der Rundfenstermembran kommt es zum Zusammenbruch des kochleären Membranpotenzials infolge des Endolymphverlusts. Hauptsymptome sind die akute einseitige Innenohrschwerhörigkeit, teils fluktuierend und bis zur Ertaubung ausgeprägt. Mehrheitlich besteht Schwindel, oft zusätzlich Tinnitus. Die Therapie besteht in einer zeitnahen operativen Abdeckung des Rundfenstermembrandefekts. Beim Syndrom des erweiterten vestibulären Aquädukts (large vestibular aqueduct syndrome, LVAS) führen Bagatelltraumen häufig zu einer akuten zusätzlichen Verschlechterung der typischerweise seit der Kindheit bestehenden und progredienten sensorischen Schwerhörigkeit.

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Abb. 11 Reintonaudiogramm bei Explosionstrauma mit Trommelfellruptur links und kombinierter Schwerhörigkeit.

Facharztwissen-HNO 701

Tab. 7 Infektiös-toxische Ursachen einer Schallempfindungsschwerhörigkeit.

Mumps Lues

Symptomatik einseitig, Effloreszenzen, Otalgie, kombinierte Läsion von VII. und VIII. Hirnnerv möglich Parotitis, Neuritis cochlearis mit Betreffen des Vestibularorgans Hörstörungen im Stadium II und III

Toxoplasmose Borreliose

häufig von Ataxie und Schwindelattacken begleitet Hirnnervenausfälle, Neuropathia vestibularis

Masern und Scharlach Typhus bakterielle Meningitis virale Meningitis

in Kombination mit Otitis media in 90 % beidseitige Schwerhörigkeit Meningo-/Pneumokokken, HiB Mumps, Masern, Parainfluenzaviren im Kindesalter

Innenohrschädigung durch ototoxische Substanzen. Die Innenohrfunktion kann durch endogene oder exogene Toxine mit Alteration kochleärer Haarzellen reversibel oder permanent geschädigt werden. Die Schädigungsmechanismen sind sehr heterogen. Reintonaudiometrisch tritt meist eine Hochtonschwerhörigkeit, gelegentlich von Tinnitus begleitet, auf. Vestibuläre Symptome resultieren seltener.

Ototoxische Substanzen Endogene Toxine Infektiös-toxische Ursachen: ▶ Grippeotitis ▶ Masern ▶ Mumps ▶ Scharlach Metabolische Ursachen: ▶ Stoffwechselmetabolite bei Diabetes mellitus, Niereninsuffizienz, Hyperbilirubinämie bei Neugeborenenikterus ▶ Vitamin-B12-Mangel Exogene Toxine Medikamente: ▶ Schleifendiuretika (Furosemid, Etacrynsäure verursachen einen gestörten Elektrolyttransport durch Enzymhemmung) ▶ nichtsteroidale Antirheumatika (NSAR) ▶ Aminoglykoside (Strepto-, Genta-, Tobramycin) ▶ chininhaltige Antimalariamittel ▶ Zytostatika (Cisplatin, Cyclophosphamid) Gewerbliche Stoffe: ▶ Schwermetalle (Blei, Quecksilber, Cadmium) irreversibel ▶ Lösungsmittel (Amino-, Nitrobenzol) ▶ aromatische Kohlenwasserstoffe

Audiometrische Charakteristika bis hochgradige Schwerhörigkeit einseitige rasche Ertaubung oft beidseitig, akut, schleichend oder in Schüben, fluktuierend bis Ertaubung, unspezifisch unspezifisch bis Ertaubung akut oder in Schüben verlaufender Hörverlust, hochfrequent über pankochleär bis Ertaubung, Tinnitus selten, aber irreversible Schwerhörigkeit reversibel nach Entfieberung Ertaubung Ertaubung

Eine passager auftretende, medikamentös bedingte toxische Innenohrschädigung wird durch Azetylsalizylsäure verursacht. Bereits ab 2 g können Tinnitus sowie eine innerhalb von 24–72 Stunden reversible und meist beidseitige, hochtonbetonte bis pantonale Schallempfindungsschwerhörigkeit auftreten. Dagegen kann die hohe Ototoxizität chininhaltiger Medikamente anfangs reversible, später auch irreversible Schwerhörigkeiten sowie Schwindel bedingen. Die meist beidseitig auftretende, betont vestibulo- (Gentamycin) oder kochleotoxische (Amikacin) Schädigung nach Gabe von Aminoglykosiden ist Folge einer Überschreitung der toxischen Lebensgesamtdosis. Diese ist individuell verschieden. Wiederholte Aminoglykosidgaben, eingeschränkte Nierenfunktion oder eine Summation der Vorbelastung des Innenohrs z. B. durch Lärm erhöhen das Risiko einer Hörstörung. Serumkontrollen des Aminoglykosidspiegels können helfen, irreversible Schäden zu verhindern.

Idiopathische akute Schwerhörigkeit – Hörsturz. Eine meist einseitige, ohne erkennbare Ursache akut über Sekunden, Minuten oder Stunden entstehende Schallempfindungsschwerhörigkeit unterschiedlichen Ausmaßes bis hin zur Ertaubung definiert den „Hörsturz“. Tinnitus und Schwindel können begleitend auftreten. Als ursächlich werden Perfusionsstörungen, metabolische Störungen auf zellulärer Ebene, z. B. durch Ionenkanaldysfunktion, autoimmunologische oder inflammatorische Prozesse, diskutiert. Bevor das Symptom des akuten Hörverlusts zur Diagnose „Hörsturz“ werden kann, gilt es, etwaige Ursachen anamnestisch, ohrmikroskopisch, laborchemisch und audiometrisch ausfindig zu machen.

Infektiös-toxische Ursachen einer Schallemp▶ Tab. 7 gefindungsschwerhörigkeit sind in ● nannt.

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Infektiöses Agens Herpes zoster

702 Differenzialdiagnostik der Hörstörungen

Labordiagnostik ▶ serologische Diagnostik: – Herpes simplex Typ 1 (HSV-1) – Varicella-Zoster-Virus (VZV) – Mumps, Zytomegalievirus (CMV) – HIV – Borrelien – Treponema pallidum ▶ klinische Chemie: kleines Blutbild, Blutsenkungsgeschwindigkeit, Fibrinogen, CRP Audiometrische Diagnostik ▶ Reintonaudiogramm ▶ Sprachaudiogramm ▶ Otoakustische Emissionen ▶ ggf. Stapediusreflex (im Intervall cave: Lärmbelastung) Vestibuläre Diagnostik ▶ Videonystagmografie ▶ Kopf-Impuls-Test Bildgebende Diagnostik ▶ MRT bei Labyrinthitis, z. A. Kleinhirnbrückenwinkeltumor und multipler Sklerose ▶ Doppler-Ultraschall bei Perfusionsstörungen der Aa. vertebrales bzw. Halsgefäße ▶ HRCT des Felsenbeins bei Mittelohrpathologie Sonstiges ▶ Blutdruckkontrolle ▶ Tympanotomie zum Ausschluss einer Perilymphfistel ▶ Glyzeroltest bei Verdacht auf Morbus Menière

Labyrinthapoplex. Eine akute einseitige, hochgradige Schwerhörigkeit mit starkem Schwindel und hochfrequentem Tinnitus bei leerer Ohranamnese wird auf akute Perfusionsstörungen des Innenohrs zurückgeführt. Postuliert wird der Verschluss der A. labyrinthi. Nichtorganische akute Schwerhörigkeit. Im Anschluss an abnorme emotionale Belastungssituationen können plötzlich vor allem bilaterale psychogene Schwerhörigkeiten auftreten. Oft sind diese mit Begleitsymptomen wie Sprechoder Gangstörungen verbunden. Das Sprachverständnis ist meist besser als vom Reintonaudiogramm zu erwarten wäre. Hier zeigt sich meist ein pankochleärer Hörverlust bis 40–50 dB. Die Brainstem Evoked Response Audiometry (BERA) bestätigt ein normales Hörvermögen, während durch die Cortical Evoked Response Audiometry (CERA) meist nur schwer ableitbare Potenziale erzeugt werden. Aggravierte oder simulierte Schwerhörigkeiten entwickeln sich meist erst mit zeitlicher Latenz nach einem Trauma (Schalltrauma, Unfall). Häufig werden diverse diffuse Symptome beklagt,

Überhörversuch nach Langenbeck Stenger-Test Békésy-Audiometrie Lombard-Leseversuch Sprachverzögerungstest nach Lee

Abb. 12 Subjektive Hörtests bei Verdacht auf Aggravation.

auch eine demonstrative Mimik und Gestik des Nichtverstehens ist oft augenscheinlich. Das Sprachverständnis ist schlechter als vom Tonaudiogramm zu erwarten wäre, die Hörtests sind schwer reproduzierbar. Der SISI-Test ist negativ, die klassischen Aggravationstests sind richtungs▶ Abb. 12). Beweisend sind objektive weisend (● Messverfahren (OAE, BERA).

Chronische Schallempfindungsschwerhörigkeit Schwerhörigkeit im Alter/Presbyakusis. Etwa 40 % der ab 65-Jährigen sind von einer im Alter auftretenden Schwerhörigkeit unterschiedlicher ▶ Abb. 13). Sie ist damit Ausprägung betroffen (● die mit Abstand häufigste Schallempfindungsschwerhörigkeit im Erwachsenenalter und zugleich eine Diagnose, die weder Genese noch Ausprägung berücksichtigt. Vermutlich basiert sie am ehesten auf einer Kombination von Soziakusis (lärmbedingte Degeneration), Nosoakusis (nicht lärmbedingte altersunabhängige Ursachen) und Presbyakusis, weshalb dem Begriff der Schwerhörigkeit im Alter dem des altersassoziierten Hörverlustes Vorzug gegeben werden sollte. Betroffene beklagen Sprachverständigungsprobleme, vor allem im Mehrpersonengespräch, bei Nebengeräuschen (sog. Cocktailparty-Effekt) oder ungünstiger Raumakustik. Im Reintonaudiogramm zeigt sich ein annähernd symmetrischer Hochtonabfall. Die Einsilberdiskrimination ist in Relation zum Reintonaudiogramm oft zu schlecht, insbesondere im Störgeräusch. Die TEOAEs sind als Zeichen der Dysfunktion der äußeren Haarzellen meist ausgefallen. Bei isolierten Hochtonabfällen können die frequenzspezifischen DPOAEs in den mittleren und tiefen Fre▶ Abb. 14). quenzen erhalten sein (● Schwerhörigkeit durch Lärm. Die beruflich bedingte Lärmschwerhörigkeit ist mit 40 % die am häufigsten anerkannte Berufskrankheit. Ihr Auftreten hängt von der Expositionszeit, dem äquivalenten frequenzbewerteten Dauerschalldruckpegel (LeqdB [A]) und der individuellen Vulnerabilität ab. Dabei gilt: Je höher der einwirkende Schalldruckpegel, umso geringer ist die zulässige Expo-

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Empfohlene Diagnostik bei akutem sensorineuralem Hörverlust nach Leitlinien www.awmf.org/leitlinien

Facharztwissen-HNO 703

b

normale altersabhängige Hörschwelle für Frauen

30 J.

0

0

30 J.

0

10

40 J.

10

10

40 J.

10

20

50 J.

20

20

50 J.

20

30

60 J.

30

30

40

70 J.

40

50

50

60

60

70

70

80

50

40 50

70 J.

60

60 70

80

80

80

90

90

90

90

100

100

100

100

110

110

110

120

120

120

110 120

250

500

Frequenz [Hz]

1

2

3 4

6 8 12

125

Frequenz [kHz]

250

500

1

2

Frequenz [Hz]

tägliche Expositionsdauer [min]

30 20 10 0

Abb. 13 Alters- und frequenzabhängiger Verlauf der Hörschwellen [5].

30 60 J.

40

70

125

DPOAE-Pegel (dB SPL)

–10

–10

–10

0

dB HL (ISO 389)

dB HL (ISO 389)

–10

normale altersabhängige Hörschwelle für Männer

6 8 12

3 4

Frequenz [kHz]

Abb. 15 Grenze der zulässigen täglichen Lärmbelastung, bei deren Überschreitung mit Hörschädigungen zu rechnen ist; berechnet nach „Occupational Noise Exposure“ des National Institute for Occupational Safety and Health, Ohio, 1998.

1 000 8h 100

10

1

0,1 80

–10 1

2 3 4 Frequenz f2 (kHz)

6

85 90 95 100 105 110 115 120 125 äquivalenter Dauerschallpegel [dB(A) SPL]

8 Frequenz in kHz 0,125 –10

0,250

0,5

1

2

3 4

6 8 10

Abb. 16 Progredienz einer Lärmschwerhörigkeit im zeitlichen Verlauf.

0 10 20 Hörpegel in dB

Abb. 14 DP-Gramm bei sensorischem Hochtonhörverlust. Die Messkurve (gestrichelt) verläuft bis 4 kHz in gutem Signal-Stör-Abstand deutlich über dem Grundrauschen (schwarz) und der 2-fachen Standardabweichung (grau). Jenseits von 4 kHz sind keine DPOAEs nachweisbar [9].

30 40 50 60 70 80

sitionsdauer. Ab einer Lärmbelastung > 85 dB (A) über 40 Wochenstunden über einen längeren Zeitraum ist mit einer Hörschädigung zu rechnen. Dasselbe Schädigungspotenzial haben 95 dB (A) für 4 Stunden/Woche und 105 dB für 24 min/Wo▶ Abb. 15). che (● Merke: Aufgrund der logarithmischen Skalierung entspricht eine Schallpegelerhöhung von 3 dB einer Halbierung der zulässigen Expositionszeit. Infolge der Lärmbelastung entsteht zunächst ein reversibler Hörschwellenschwund (TTS) durch intrazelluläre Stoffwechselermüdung. Eine anhaltende Lärmbelastung führt schließlich zum irreversiblen Untergang der äußeren Haarzellen (permanent treshold shift, PTS). Korrelierend bildet sich die symmetrische charakteristische Hochton-/„c5“-Senke bei 4 kHz aus. Sie verbrei-

90 100 110 120 130 Rechtes Ohr

HV

7% (Rö73) –10dB 0% (Rö80)

tert und vertieft sich bei Lärmpersistenz und erfasst schließlich durch Involvierung der inneren Haarzellen auch mittlere und später tiefe Frequen▶ Abb. 16). zen mit Hörverlusten jenseits 60 dB (● Das Recruitment ist immer positiv. Die Einsilberdiskrimination im Sprachaudiogramm ist gut, solange die Hauptsprachfrequenzen von dem Hörschwellenabfall nicht betroffen sind. Merke: Eine Verschlechterung des Hörvermögens nach Beendigung der Lärmbelastung wird in der Regel nicht als Folge der Lärmeinwirkung betrachtet.

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a

Profil der Lärmschwerhörigkeit ▶ symmetrisches Vorkommen ▶ Hochtonverlust zwischen 3 und 6 kHz ▶ pathologische Veränderung des Lautheitsausgleichs (Recruitment) ▶ reduziertes Sprachverständnis, insbesondere im Störgeräusch ▶ verminderte Frequenzselektivität ▶ Tinnitus ▶ stabile Hörschwelle bei Sistieren der Lärmexposition

Lärmbelastung durch Freizeitlärm. Alarmierend ist die zunehmende Belastung durch Freizeit- (elektronisch verstärkte Musik, Computerspiele, Musikveranstaltungen) und Umweltlärm (Straßenverkehr, Baustelle). Mit Dauerschallpegeln von > 90 (dB) bei zu langen Expositionszeiten sind die Musikhörgewohnheiten mancher Jugendlicher insbesondere unter Verwendung von Kopfhörern potenziell hörschädigend. Musikgroßveranstaltungen mit 120 dB in unmittelbarer Lautsprechernähe können als einmaliges Ereignis den Weg unweigerlich zu einer bleibenden Hörschädigung bahnen. Auch Schalldruckspitzen bei Impulsschallbelastungen wie Trillerpfeife, Sirene oder Knallfrosch können in Ohrnähe schnell direkt schädigende Lautstärkepegel von 135 dB (A) erreichen. Schätzungen von Ising [7] lassen einen kommunikationsrelevanten Hörverlust von 20 dB im Hochtonbereich bei 10–20 % der Jugendlichen und jungen Erwachsenen nach 10 Jahren übermäßiger Musikbelastung erwarten.

Auditorische Synaptopathie/Neuropathie



pathie – eine gestörte Reizverarbeitung/Dysfunktion der ▶ inneren Haarzellen/ihrer Synapsen sowie der dortigen Schallkodierung und/oder ▶ der Spiralganglien mit fehlerhafter Weiterleitung des Aktionspotenzials Als audiologisches Zeichen einer ursächlichen Synchronisationsstörung im Hörnerv oder in der zentralen Hörbahn sind die früh akustisch evozierten Potenziale (FAEPs) dysmorph oder fehlen. Markantes audiologisches Kriterium ist die gleichzeitige Nachweisbarkeit von OAEs und Mikrofonpotenzialen, was die intakte Funktion der äußeren Haarzellen belegt. Die Stapediusreflexe sind allenfalls mit deutlich erhöhter Schwelle auslösbar. Zwecks differenzialdiagnostischen Ausschlusses von Pathologien entlang der Hörbahn sind die späten akustisch evozierten Potenziale und ein MRT durchzuführen. Die Auditorische Synaptopathie/Neuropathie tritt sowohl hereditär auf, kann aber auch erst im Erwachsenenalter manifest werden. Typisch und folgenreich sind fluktuierende, meist beidseits auftretende stark ausgeprägte Hörminderungen mit einer unverhältnismäßig schlechten Einsilberverständlichkeit, insbesondere im Störgeräusch.

Neurale Schwerhörigkeit Definition



Störungen der Kodierung des akustischen Signals oder Verzögerung der nervalen Reizleitung werden als neurale Schwerhörigkeit bezeichnet.

Eine spezielle und sehr seltene, der Innenohrschwerhörigkeit zugeordnete Funktionsstörung ist die Auditorische Synaptopathie oder Neuro-

a 0,125 –10

Frequenz in kHz 0,250 0,5 1

b 2

3 4

6 8 10

10

Verständlichkeit in% 30 50

70

90

0

0

10

10

0

20

20

30

30

Sprachpegel in dB

40 50 60 70 80 90 100

F

40

20

50

30

60

40

70

50

80

60

90

70

120

110

130

120

Rechtes Ohr

F F

F F F F

100

110

10

Hörverlust (dB)

Hörpegel in dB

Abb. 17 Diskrepanz zwischen Reintonaudiometrie (a) und unverhältnismäßig schlechter Sprachverständlichkeit (b) bei neuraler Schwerhörigkeit.

Rechtes Ohr

F 20

ws e. --% ws gw. --%

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704 Differenzialdiagnostik der Hörstörungen

Facharztwissen-HNO 705

Symptome wie Hörstörungen, Tinnitus und ggf. vestibuläre Probleme erlauben eine klinische Differenzierung zwischen sensorischer und neuraler Schwerhörigkeit nicht zuverlässig. Zudem ist das zusätzliche Vorliegen einer kochleären Schädigung bei neuraler Schwerhörigkeit nicht selten (z. B. Vestibularisschwannom).

Eine neurale Schwerhörigkeit wirkt sich auf die Stapediusreflexschwelle wie eine Schallleitungsschwerhörigkeit aus, da das Recruitment in der Regel fehlt. Folglich führt jeder neurale Hörverlust auch < 50 dB zu einer entsprechenden Erhöhung der Reflexschwelle. Damit sind negative Stapediusreflexe bei geringgradigem Knochenleitungsabfall markante Hinweise, die zur Prüfung retrokochleärer Störungen Anlass geben müssen.

Diagnostik

Differenzialdiagnose

Reintonaudiometrie

Vestibularisschwannom, Syn. Akustikusneurinom, Oktavusneurinom





Es zeigt sich eine einseitige Schwerhörigkeit mit oft untypischem Schwellenverlauf. Bei zusätzlicher kochleärer Schädigung infolge von Perfusionsstörungen (Kompression der A. labyrinthi) besteht oft eine hochtonbetonte Hörschädigung. Ein unverhältnismäßig großer Sprachverständlichkeitsverlust im Vergleich zur Reintonhörschwelle ▶ Abb. 17). Ursächlich ist die ist häufig auffällig (● verminderte Leitgeschwindigkeit des Hörnervs mit zeitlich-auditorisch gestörtem Auflösungsvermögen. Denn für das Verstehen von Sprache ist ein größeres zeitliches Auflösungsvermögen als für das Wahrnehmen von Tönen notwendig.

Überschwellige Tests und Stapediusreflex



Durch rezidivierende Hörstürze oder progrediente Hörverluste, ggf. mit Tinnitus, kann ein ▶ Abb. 18) als häufigste Vestibularisschwannom (● Ursache neuraler Schwerhörigkeiten klinisch manifest werden. 1–2 % aller Hörstürze liegt ein Vestibularisschwannom zugrunde. Schwindel tritt dabei eher selten auf, da sich die nervale Schädigung zu langsam entwickelt, um nicht parallel bereits kompensiert werden zu können. Der Tumornachweis erfolgt mittels MRT. Infolge der Arteria-labyrinthi-Kompression kommt es häufig auch zu einer Schädigung der äußeren Haarzellen mit Hochtonverlust und entsprechendem Ausfall der OAEs.

Die überschwelligen audiometrischen Untersuchungen ergeben bei reiner neuraler Schwerhörigkeit ein negatives Recruitment. Die Stapediusreflexschwelle ist häufig erhöht. Die Aussagekraft überschwelliger subjektiver Tests zur Sicherung retrokochleärer Hörschädigungen ist jedoch eingeschränkt, sodass bei konkretem Verdacht auf neurale Schwerhörigkeiten eine BERA und/oder MRT-Diagnostik erfolgen sollten.

Ursachen neuraler Schwerhörigkeit ▶ extra- und intrakranielle Tumore: Meningeom, Neurinom, Paragangliom, Metastase ▶ Tumore des 7. und 8. Hirnnerven, Neurofibromatose II ▶ Tumore in Felsenbein und Otobasis von Knorpel, Knochen und dem hämatopoetischen System ausgehend ▶ vaskuläres Kompressionssyndrom: Gefäßschlinge der A. labyrinthi ▶ Meningeosis carcinomatosa, Meningitis

Merke: Eine einseitige Schallempfindungsschwerhörigkeit erfordert immer den Ausschluss einer ursächlichen retrokochleären Störung (BERA, MRT).

a

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Klinik

b

Abb. 18 Vestibularisschwannom links, MRT, T1W mit KM, coronar und axial.

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Zentrale Schwerhörigkeit

Klinische Symptome bei auditiven Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen (AVWS)

Die zentrale Hörverarbeitung beruht auf einer komplexen Datenanalyse. Akustische Informationen und auditiv-sprachliche Signale werden subkortikal und im auditorischen Kortex hinsichtlich Zeit-, Frequenz- und Intensitätsveränderung analysiert, differenziert, extrahiert und modifiziert. Störungen können zu Beeinträchtigungen der Synchronisation und Modulation der beidseits empfangenen Signale führen, Störsignale nur ungenügend filtern und Vorgänge der binauralen Interaktion beeinflussen. Gemäß dem Konsensuspapier der deutschen Pädaudiologen (2000) betreffen diese Dysfunktionen die ▶ auditive Verarbeitung – vorbewusste Prozessierung der Informationen beider Ohren (Kochleariskern bis primäre Hörrinde) – und die ▶ auditive Wahrnehmung – bewusste kognitive Analyse dieser Informationen (kortikal auditorische Areale und Sprachzentrum).

▶ Ablenkbarkeit /Unaufmerksamkeit ▶ häufiges Nachfragen und inadäquate Reaktionen bei verbalen Aufforderungen ▶ häufige Missverständnisse bei sprachlichen Anweisungen ▶ auffallende Unempfindlichkeit/Unaufmerksamkeit gegenüber Schallreizen ▶ übermäßige Empfindlichkeit gegenüber lauten und schrillen Schallreizen ▶ auffallend vermindertes Sprachverständnis im Lärm oder bei mehreren Gesprächspartnern ▶ wenig Interesse bzw. Ausdauer, wenn vorgelesen wird ▶ Schwierigkeiten bei der Lokalisation von Schallreizen im Alltag ▶ Merkfähigkeitsprobleme im Alltag bei mehrteiligen Aufforderungen ▶ Lese- und/oder Rechtschreibstörungen bei ansonsten durchschnittlichen Schulleistungen ▶ Probleme mit dem Lese-Sinn-Verständnis als Folge der gestörten Basalfunktionen

Auswirkungen zentraler Schwerhörigkeit Zentrale Schwerhörigkeiten haben weniger Auswirkungen auf die Hörschwelle, als vielmehr auf die differenzierte Hörverarbeitung mit Einschränkungen ▶ des Sprachverstehens, insbesondere in Gruppensituation ▶ des Richtungshörens ▶ des akustischen Gedächtnisses und der auditiven Merkfähigkeit ▶ der Störgeräuschunterdrückung und ▶ der Schallquellenlokalisation.

Entsprechend ergeben sich aus subjektiven audiometrischen Verfahren Auffälligkeiten im Sprachaudiogramm (insbesondere im Störschall), im dichotischen Test, bei der Lautdiskrimination und -identifikation oder in einer verminderten Hör-Merk-Spanne. Auch nichtsprachliche Signale (Richtungshören) können auffällig sein. Eine periphere Hörstörung muss durch eine Normakusis im Reintonaudiogramm und das Vorhandensein der TEOAEs ausgeschlossen werden (cave: fehlende früh akustisch evozierte Potentiale bei auditorischer Synaptopathie/Neuropathie). Objektive Verfahren sind die Impedanzprüfung sowie die Erfassung früher, mittlerer und später auditorisch evozierter Potenziale. Obwohl häufig eine Komorbidität mit Lern- und Verhaltensstörungen besteht, sind differenzialdiagnostisch periphere Hörstörungen, Sprach-, Gedächtnis-, Intelligenz-, Aktivitäts- oder Aufmerksamkeitsstörungen, kognitive und perzeptive Dysfunktionen, ADHS und hirnorganische Erkrankungen auszuschließen.

Weitere Formen der Hörstörung Autophonie



Bei Insuffizienz des passiven Verschlusses der Tuba Eustachii (z. B. bei Hypotonie, Gewichtsverlust, hormonellen Faktoren bei Gravidität u./o. Kontrazeptiva) ist das Phänomen der Autophonie vordergründig. Betroffene beschreiben ein Hallen oder Dröhnen der eigenen Stimme im Kopf, was auf die doppelte Schallzufuhr der eigenen Stimme sowohl via Gehörgang als auch via offener Tube erklärbar wird. Zusätzlich werden Druck- und Völlegefühl im Ohr sowie ein dumpfer Höreindruck beklagt. Im Liegen sistieren die Beschwerden aufgrund der Zunahme des venösen Drucks durch die vermehrte Durchblutung des peritubaren Venenplexus. Damit ist die Anamnese der richtungsweisende Schritt zur Diagnose. Ohrmikroskopisch können ggf. atemsynchrone Flatterbewegungen des Trommelfells (bei forcierter einseitiger Nasenatmung) wahrgenommen werden. Oft ist der hintere obere Quadrant als Resultat eines Sniffing-Phänomens zart bis atroph.

Fluktuierendes Gehör



Ein variables Hörvermögen kann auf mittelohrbedingter Veränderung der Schallleitungsfähigkeit durch Sekret/Otorrhoe bei chronischer Otitis media oder Cholesteatom sowie bei Restbelüftung des ▶ Tab. 8). Cavum tympani bei Erguss beruhen (●

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706 Differenzialdiagnostik der Hörstörungen

Facharztwissen-HNO 707

Tab. 8 Übersicht über ausgewählte Krankheitsbilder mit fluktuierendem Gehör (nach K. Schorn 1990). Krankheitsbild Morbus Menière Morbus Lermoyez Labyrinthfistel zervikale Schwerhörigkeit

Tonaudiometrischer Befund einseitige Tieftonschwerhörigkeit, im Verlauf pantonal einseitige Tieftonschwerhörigkeit einseitige Tiefton-, später pankochleäre Schwerhörigkeit ein- oder beidseitige Tieftonschwerhörigkeit mit Senke bei 500 Hz

Recruitment stark positiv stark positiv stark positiv positiv

Tinnitus einseitig tieffrequent einseitig tieffrequent einseitig uncharakteristisch tieffrequent

Schwindel akute Drehschwindelanfälle (Minuten bis Stunden) Drehschwindel von Minuten

Besonderheiten Aura mit Ohrdruck und Hörminderung Hören im Anfall besser

positives Fistelsymptom

richtungsweisende Anamnese HWS-Anamnese

anfallsweise Schwankschwindel

Hyperakusis Der Begriff der Hyperakusis fasst die zu intensive und teils unangenehme Wahrnehmung von Um▶ Abb. 20). gebungsschallreizen zusammen (● Man unterscheidet Hyperakusis bei Normalhörigkeit, bei Innenohrschwerhörigkeit und bei ▶ Abb. 21). Neben der HörrehabiPhonophobie (● litation mit Hörgeräten bei Innenohrschwerhörigkeit setzen Therapiekonzepte bei der Habituation (Hörtraining) oder bei der Psychotherapie an.

Abb. 19 Felsenbein-CT: Dehiszenz des oberen Bogengangs links.

Tinnitus Ätiologie

Bei einer fluktuierenden Innenohrschwerhörigkeit dominieren im Regelfall vestibuläre Beschwerden das Krankheitsbild. So stellt sich der Morbus-Menière-Patient in erster Linie wegen einer akuten Drehschwindelsymptomatik mit vegetativer Begleitsymptomatik vor. Dem als ursächlich angenommenen Endolymphhydrops ist eine reversible Tieftonschwerhörigkeit zuzuschulden, die im Krankheitsverlauf in eine hochgradige persistierende pantonale Schallempfindungsschwerhörigkeit übergehen kann.

Tullio-Phänomen



Das Tullio-Phänomen beschreibt vestibuläre Missempfindungen bis hin zu Schwindelattacken, Fallneigung und Oszillopsien, die durch Schallpegel > 90 dB ausgelöst werden können. Als ursächlich wurde die Dehiszenz des oberen Bogengangs, Superior Semicircular Canal Dehiscence (SSCD), mit fehlender knöcherner Bede▶ Abb. 19). Durch ckung desselben identifiziert (● den Verlust von Schallenergie über die Dehiszenz resultiert eine tieftonbetonte Schallleitungskomponente bei oft supranormaler Knochenleitung. Damit ähnelt das ohrmikroskopische und audiometrische Bild dem der Otosklerose. Im Gegensatz zu dieser sind die Amplituden der zervikalen vestibulär evozierten myogenen Potenziale (cVEMPs) jedoch klassischerweise überhöht. Eine auftretende Autophonie kann Folge der verminderten Impedanz sein.



Wesentliche Ursachen eines Tinnitus sind Schädigungen durch akuten oder chronischen Lärm, Perfusionsstörungen, toxische Einflüsse – dem Schädigungsmuster des Innenohrs adäquat ▶ Abb. 22). (●

Häufigkeit



25 % der Deutschen geben an, Ohrgeräusche bereits erlebt zu haben, 14 % haben Ohrgeräusche über einen längeren Zeitraum. 53 % gaben zeitgleich eine Hörminderung an, während 44 % über eine Hyperakusis klagen [10].

Klinik



Von Betroffenen wird ein Tinnitus als zeitweilige oder permanente Wahrnehmung eines Tons in einer vielfältigen Qualität von Sinuston, Rauschen, Summen, Brummen, Klirren, Klingeln, Fiepen bis zum Zirpen beschrieben.

Klassifizierung



Eine mögliche Systematik des Tinnitus kann sich an seinem Zeitverlauf, seinen Auswirkungen auf das Wohlbefinden, seiner Objektivierbarkeit sowie der Vergesellschaftung mit anderen audiolo▶ Abb. 22). gischen Symptomen orientieren (●

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708 Differenzialdiagnostik der Hörstörungen

Abb. 20 Übersicht der verschiedenen Formen einer Hyperakusis.

• Überempfindlichkeit gegenüber Geräuschen normalen Pegels (ab 70 dB HL) mit

Hyperakusis bei Normalhörigkeit

• vegetativer oder motorischer Reaktion oberhalb dieser Schwelle (häufig nach Lärmtrauma),

Hyperakusis mit Recruitment

• vorrangig bei beginnender Innenohrschwerhörigkeit und Ausfall der nichtlinearen kompressiven Schallverarbeitung der äußeren Haarzellen

Hyperakusis als Phonophobie

• auf bestimmte Alltagsgeräusche normaler Intensität ausgerichtete Überempfindlichkeit mit Angst und Vermeidungsreaktion, die nicht an die Frequenzeigenschaften des Geräusches, sondern an die Hörerfahrung (Erlebnisassoziation) gebunden sind

zentral Angst/Phobie, Depression, Somatisierungsstörungen

Temporallappen Migräneaura, Epilepsie, Tumor (selten)

retrokochleär funktionelle „Filterverluste“ (häufig) Pharmaka, Tumor, multiple Sklerose (selten)

1

2 3 Mittelohr Otosklerose bei Z.n. Stapesplastik, Fazialislähmung

Innenohr Schädigung der inneren und/oder äußeren Haarzellen (Recruitment)

4

Abb. 21 Mögliche Ursachen einer Hyperakusis [8].

Der objektivierbare Tinnitus ist sehr selten (0,01 %). Nicht nur vom Betroffenen, sondern auch von Außenstehenden ist er – ggf. mittels Stethoskop oder Mikrofon verstärkt – hörbar. Er beruht auf der Wahrnehmung pathologisch verstärkter körpereigener Geräusche oder klonischen Kon▶ Tab. 8, 9). traktionen der Mittelohrmuskeln (●

Subjektive Ohrgeräusche sind Töne oder Geräusche, die ohne Existenz eines auslösenden akustischen Reizes und nur vom Betroffenen selbst wahrgenommen werden. Sie beruhen auf einer fehlerhaften Informationsbildung im auditorischen System.

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• zentrale oder periphere Ursache

Facharztwissen-HNO 709

Tab. 9 Mögliche Ursachen eines objektiven Tinnitus. Ursache vaskulär

Eigenschaften pulsierend, pulssynchron

muskulär

– – – –

klickend – knallend ohrmikroskopisch sichtbar meist einseitig typisch bei 1 kHz (Eigenresonanz der Ossikel) klickend/schmatzend

Tubenöffnung

Pathogenese – Änderungen des Blutstroms bei AV-Fistel – Glomustumor – Intrakranielles Aneurysma klonische Kontraktionen der Mm. tensor et levator veli palatini, des M. tensor tympani und des M. stapedius

Tubenfunktionsstörung

▶ Folge vertebragener oder stomatognather Funktionsstörungen. MittelohrT

subjektiv objektiv

cochleärer T.

Verlauf und Habituation

mit Hörverlust

akut

TINNITUS

ohne Hörverlust

chronisch

kompensiert

dekompensiert

Abb. 22 Möglichkeiten der Klassifizierung des Tinnitus [8].

Differenzialdiagnose nach dem Entstehungsort



Prinzipiell kann Tinnitus ein Symptom einer Erkrankung eines jeden Abschnitts des auditorischen Systems sein, der an der Prozessierung akustischer Reize beteiligt ist (Details siehe ▶ Abb. 23). Er kann auftreten als ● ▶ Schallleitungstinnitus bei jeder Form von Mittelohrpathologie ▶ sensorineuraler Tinnitus mit Ursache in äußeren (Motortinnitus) und inneren Haarzellen (Transduktionstinnitus) oder den Synapsen (Transformationstinnitus) ▶ extrasensorischer Tinnitus (Stria vascularis) ▶ zentraler Tinnitus als primäres Symptom bei ZNS-Erkrankung oder, häufiger, sekundär zentraler Tinnitus durch Zentralisierung eines ursprünglich kochleären Tinnitus

Komorbidität



Tinnitus kann auch sein: ▶ Begleitsyndrom internistischer Erkrankungen (Diabetes mellitus, Niereninsuffizienz, HerzKreislauf-Erkrankungen, Wegener-Granulomatose), ▶ Nebenwirkung von Medikamenten (ASS, Diuretika, Aminoglykoside, Betablocker, orale Antikonzeptiva, trizyklische Antidepressiva) oder

Im zeitlichen Verlauf kann der Tinnitus akut (3 Monate), subakut (bis 1 Jahr) und chronisch ( > 1 Jahr) bestehen. Entscheidend ist die Frage, welchen Leidensdruck und welche Auswirkungen der Tinnitus auf die Lebensqualität mit sich bringt und somit vom Symptom zur Diagnose wird. Habituationsvorgänge ermöglichen eine Kompensation in der Hörverarbeitung, sodass das Vorhandensein des Geräuschs oftmals kaum bis nicht stört. Eine Assoziation des Tinnitus mit emotionaler Bewertung sowie dysfunktionale Aufmerksamkeitsprozesse unterbinden diesen Habituationsvorgang jedoch. Ein intermittierendes Auftreten erschwert die Habituation zudem durch unregelmäßige Fokussierung auf das Ohrgeräusch ebenso wie eine vorliegende Schwerhörigkeit, die die Option der Überdeckung durch Außengeräusche nimmt. Somit kann Tinnitus in Ruhe oder Belastungssituationen stark störend wirken und schließlich mit Folgen wie Konzentrations- oder Schlafdefizit bis hin zu Depressionen dramatische psychosoziale und berufliche Auswirkungen haben.

Schwerhörigkeit im Kindesalter Schallleitungsschwerhörigkeit



Epidemiologie Die häufigste Ursache für eine passagere Schallleitungsschwerhörigkeit im Kindesalter ist die Tubenfunktionsstörung mit resultierendem Seromukotympanon. Von der Geburt bis zum Schulalter tritt bei bis zu 80 % der Kinder mindestens einmal ein Paukenerguss auf [11]. Die Prävalenz im 2. Lebensjahr beträgt 20 % [12]. Permanente Schallleitungsschwerhörigkeiten im Kindesalter sind selten. Differenzialdiagnostisch müssen Fehlbildungen und entzündliche Ursachen sowie ein LVA-Syndrom erwogen werden.

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710 Differenzialdiagnostik der Hörstörungen

Tinnitusursachen in verschiedenen Stadien der Hörbahn

Emotionen, Bewertungen

Emotionen, Abwehr, Angst

psychische Alteration, Übererregungen ZNS

Thalamus

auditorischer Kortex

Colliculus inferior

HWS Kiefergelenk

Entzündungen Demyelinisierung apoplektische Herde Hirntumoren

Akustikusneurinom

Zerumen Otitis externa

Otitis media Otosklerose

virale Toxine Nucleus cochlearis

Lärm Degeneration

Corti-Organ Haarzellen

äußere Gehörgang

Mittelohr

Ohr

Innenohr mit Haarzellen

Nucleus cochlearis

Ausschnitt des Innenohres

Abb. 23 Mögliche Ursachen eines Tinnitus [8].

Tab. 10 Folgen der Schwerhörigkeit beim Kind. Grad der Schwerhörigkeit geringgradig mittelgradig Hochtonabfall hochgradig

Folgen Artikulationsstörung, Dysgrammatismus zusätzlich: Wortschatzbegrenzung, Sprachmelodieveränderung, Monorhythmie, Erhöhung der Stimmlage stimmlose Konsonanten, Zischlaute Ausbleiben des Spracherwerbs

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limbisches System

Facharztwissen-HNO 711

suchung (Ohrmikroskopie) und Tympanometrie gestellt. Reintonaudiometrische Untersuchungen können ab dem 3. Lebensjahr die Diagnose stützen. Bei permanenter Schallleitungsschwerhörigkeit kommen neben subjektiver und objektiver Hördiagnostik hochauflösende Schnittbildverfahren zum Einsatz (CT, DVT, MRT).

Einteilung der Schallleitungsschwerhörigkeit nach ihrer Dauer und typische Differenzialdiagnosen Passager ▶ Paukenerguss ▶ Cerumen obturans ▶ traumatische Trommelfellperforation ▶ akute Otitis media ▶ Otitis externa Permanent ▶ Gehörgangsstenose/-atresie ▶ chronische Otitis media ▶ (kongenitales) Cholesteatom ▶ Fehlbildungen ▶ Otosklerose ▶ Tympanosklerose ▶ Gusher-Syndrom

Sensorineurale Schwerhörigkeit



Die frühkindliche Sprachentwicklung wird ohne ausreichende akustische Stimulation massiv und nachhaltig beeinträchtigt und bewirkt ein Leben lang gravierende und irreversible Nachteile in der ▶ Tab. 10). gesamten kognitiven Entwicklung (●

Diagnostik Beim Säugling und Kleinkind wird die Diagnose eines Paukenergusses durch die klinische Unter-

1,2 von 1 000 Neugeborenen leiden an einer bilateralen permanenten sensorineuralen Hörstörung mit Hörverlust von mindestens 35 dB. Im 1. Lebensjahr entwickeln sich bleibende Hörstörun-

Abb. 24 Einteilung der sensorineuralen Schwerhörigkeit im Kindesalter nach dem zeitlichen Auftreten [13].

Geburt 1. Lj.

pränatal

2. Lj

3. Lj

4. Lj

65

5. Lj

postnatal Presbyakusis prälingual

perilingual

postlingual

perinatal

genetisch bedingt (30 %)

erworben (20 %) unbekannte Ursache (50 %)

Pendred Syndrom Cogan Syndrom Waardenburg Syndrom Usher Syndrom Osteogenesis imperfecta Goldenhar-Syndrom

autosomal rezessiv (80%)

Alport Syndrom

X-chromosomal

nicht-syndromal [70 %]

autosomal dominant (17%)

syndromal [30 %]

infektiös (Toxoplasmose, CMV, HSV, Mumps, Masern, Meningitis, Sepsis), metabolisch (Asphyxie, Hyperbilirubinämie, toxisch (Alkohol, Thalidomid)

Pierre-Robin-Sequenz Franceschetti-Syndrom

traumatisch (intrakranielle Blutung, Schädeltrauma, Lärm)

Abb. 25 Übersicht möglicher Differenzialdiagnosen bei kindlicher sensorineuraler Schwerhörigkeit.

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Epidemiologie

712 Differenzialdiagnostik der Hörstörungen ▶ Abb. 24). gen bei 1 von 5 000–10 000 Kindern (● Passagere Schallleitungsschwerhörigkeiten durch eine chronische seröse oder muköse Otitis treten zwischen dem 1. und 3. Lebensjahr mit einer Inzidenz von 30 % auf, bei Morbus Down von 50 % und bei Kiefer- oder Gaumenspalte von 80 % ▶ Abb. 25). Hörstörungen zentraler Ursache wie (● AVWS sind auf S. 706 f nachzulesen.

Diagnostik Zur Erfassung und Differenzierung von kindlichen Schwerhörigkeiten stehen neben den subjektiven Möglichkeiten der Reflexaudiometrie aussagekräftigere objektive audiometrische Me▶ Tab. 11). Die Bildgebung thoden zur Verfügung (● mittels CT und MRT dient dem differenzialdiagnostischen Ausschluss angeborener Fehlbildungen.

Tab. 11 Überblick audiometrischer Methoden zur Differenzierung kindlicher Hörstörungen. Prüfziel – Mittelohrbelüftung – Stapediusreflexmessung

TEOAE, DPOAE

Sinneshaarzellen der Kochlea akustisch evozierte Potenziale

Kind hört nicht auf beiden Ohren oder Test nicht durchführbar. Die Untersuchung wird sofort wiederholt

Kind hört nicht auf beiden Ohren oder Test nicht durchführbar.

Screeningzentrum - Datenerfassung - Abgleich mit Neugeborenenrate - Nachverfolgung (Tracking)

Kontrolluntersuchung mit Screeninggerät innerhalb der nächsten 4 Wochen bei einem Facharzt

Kind hört nicht auf beiden Ohren oder Test nicht durchführbar.

Abklärungsdiagnostik durch HNO-Arzt oder Pädaudiologen mit Hörschwellenbestimmung bis spätestens 12. Lebenswoche

Alle Untersuchungen bestätigen, dass eine Hörstörung besteht.

Kind bekommt bis spätestens zum 6. Lebensmonat ein Hörgerät angepasst, begleitende Betreuung.

Stufe 1 des Screenings 1.–14. Lebenstag

Hörtest (OAE) 2.-3. Lebenstag bei Klinikentbindung oder bis zum 14. Lebenstag bei ambulanter Geburt

Stufe 2 des Screenings 2.– 4. Lebenswoche

Abb. 26 Algorithmus des Neugeborenen-Hörscreenings [13].

Stufe 3 des Screenings 1.– 3. Lebensmonat

– Hirnstammpotenziale (BERA, Frühe und mittlere akustisch evozierte Potenziale) – Hirnrindenpotenziale (CERA, Späte akustisch evozierte Potenziale) – stationäre Potenziale (ASSR, Auditory Steady-State Responses)

Beurteilung – Hinweis auf Schallleitungsschwerhörigkeit (Tympanogramm Typ B oder C) – Hinweis auf Schallleitungsschwerhörigkeit durch Pathologie im Verlauf der Ossikelkette (negativer Stapedius-Reflex) – Hinweis auf neurale/zentrale Schwerhörigkeit bei deckungsgleicher KL-LL-Kurve – Neugeborenen-Hörscreening – Erfassung sensorischer Schwerhörigkeit – objektive Bestimmung der Hörschwelle von Knochen- und Luftleitung – Diagnostik neuraler/zentraler Schwerhörigkeit (retrokochleäre Schwerhörigkeit) – Diagnostik kognitiver Verarbeitung

Erinnerung oder Nachfrage durch das Screeningzentrum, wenn der nachfolgende Schritt nicht bestätigt wird (Tracking)

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Objektiver Hörtest Impedanzaudiometrie

Facharztwissen-HNO 713



Angeborene Hörstörungen sind die häufigsten Sinnesbehinderungen des Neugeborenen. Eine effektive akustische Stimulation im Säuglingsund Kleinkindalter ist jedoch die unabdingbare Voraussetzung für die physiologische Reifung der Hörbahn. Werden Hörminderungen frühzeitig erkannt und während der in den ersten Lebensmonaten und -jahren vorhandenen Plastizität des Zentralnervensystems auditiv rehabilitiert, kann entscheidend auf die Hör- und Sprachentwicklung eingewirkt werden. Deutschlandweit ist deshalb seit dem 01.01.2009 ein flächendeckendes Neugeborenen-Hörscreening als Krankenkassen▶ Abb. 26) [14]. leistung eingeführt worden (●

Literatur 1 Sohn W. Schwerhörigkeit in Deutschland – repräsentative Hörscreening-Untersuchung bei 2000 Probanden in 11 Allgemeinpraxen. Z Allg Med 2001; 77: 143–147 2 Zahnert T. The differential diagnosis of hearing loss. Dtsch Arztbl Int 2011; 108: 433–444 3 Feldmann H, Brusis T. Das Gutachten des Hals-NasenOhren-Arztes. 7. Aufl. Stuttgart: Thieme, 2012 4 Brusis T, Mehrtens G. Vor- und Nachschaden bei Lärmschwerhörigkeit. Laryng Rhinol 1981; 60: 168 5 Probst R, Grevers G, Iro H. Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde. 2. Aufl. Stuttgart: Thieme, 2000 6 Lehnhardt E, Laszig R, Hrsg. Praxis der Audiometrie. 9. Aufl. Stuttgart: Thieme, 2009 7 Ising H. Gehörgefährdung durch laute Musik. Soz Praeventivmed 1996; 41: 327–328 8 Hesse G. Tinnitus. Stuttgart: Thieme, 2008 9 Mrowinski D, Scholz G. Audiometrie. 3. Aufl. Stuttgart: Thieme, 2005 10 Pilgram M, Rychlik R, Lebisch H et al. Tinnitus in der Bundesrepublik Deutschland – eine repräsentative epidemiologische Studie. HNO aktuell 1999; 7: 261–265 11 Tos M. Epidemiology and natural history of secretory otitis. Am J Otol 1984; 5: 459–462 12 Simpson SA, Thomas CL, van der Linden M et al. Identification of children in the first four years of life for early treatment for otitis media with effusion. Cochrane Database of Systematic Reviews 2007; 1 (CD004163) 13 Zahnert T. Schwerhörigkeit – Ätiologie, Diagnostik und auditive Rehabilitation. Laryngo-Rhino-Otol 2010; 89: 669–693 14 Leitlinie akuter sensorineuraler Hörverlust. http:// www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/017-010.html 15 Reiss M. Facharztwissen HNO-Heilkunde: Differenzierte Diagnostik und Therapie. Springer, 2009

Leukozyten“ als DFG-Projekt am Institut für Immunologie der Med. Fakultät der Universitätsklinik Dresden mit dem Abschluss der Promotion 2008. 2014 Abschluss der Weiterbildung zum Facharzt für Hals-, Nasen-, Ohrenheilkunde, POLTutorin im Rahmen der studentischen Ausbildung, Engagement im Hörforschungslabor. Thomas Zahnert Jahrgang 1964, Univ.-Prof. Dr. med. habil. Dr. h. c. Direktor der Klinik und Poliklinik für Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde, Medizinische Fakultät der Technischen Universität Dresden. 1984–1990 Medizinstudium an der Humboldt-Universität Berlin und der Medizinischen Akademie Dresden. 1990 Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Medizinischen Fakultät der Technischen Universität Dresden, Klinik und Poliklinik für Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde. Aufbau eines Forschungslabors zur dynamischen Untersuchung der Mittelohrfunktion (Direktor: Prof. Dr. K.-B. Hüttenbrink). 1990 Promotion zum Thema „Morphometrische Untersuchungen am Adenokarzinom des Dickdarms“, Uniklinikum Dresden. 1995 Abschluss der Weiterbildung zum Facharzt für Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde. 1995– 2003 nationale und internationale Tutorentätigkeit als Cochlea-Implant- und Mittelohrchirurg. Erweiterung des Hörforschungslabors mit Aufbau eines Simulationsmodells in Kooperation mit dem Institut für Festkörpermechanik (Prof. Dr. H.-J. Hardtke, Prof. R. Schmidt). 2003 Habilitation (Laservibrometrische Untersuchungen zur Funktion des gesunden und rekonstruierten Mittelohres), Ernennung zum leitenden Oberarzt der Klinik für Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde der Med. Fakultät Dresden. Verleihung der Ehrendoktorwürde durch die staatliche Universität Tblissi (Georgien). 2007 Ruferteilung auf W3Professuren HNO an den Universitäten Magdeburg und Dresden. Gewinner verschiedener Innovationswettbewerbe Medizintechnik BMBF.

Über die Autoren

Korrespondenzadresse

Anja Schulze Jahrgang 1980; Dr. med., aktuell als Fachärztin an der Klinik für HNO-Heilkunde der Med. Fakultät der TU Dresden tätig. 2005 Abschluss des Studiums der Humanmedizin an den Universitätskliniken Leipzig und Dresden. Experimentelle Arbeit zum Thema „Nachweis einer gangliosidspezifischen 7/9-O-Acetyltransferase in humanen

Dr. med. Anja Schulze Klinik und Poliklinik für HNO-Heilkunde Universitätsklinikum Carl Gustav Carus Fetscherstraße 74 01307 Dresden [email protected]



Schulze A, Zahnert T. Differenzialdiagnostik der … Laryngo-Rhino-Otol 2014; 93: 689–715 ∙ DOI 10.1055/s-0034-1387738 ∙ VNR: 2760512014144213112

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Neugeborenen-Hörscreening

714 Differenzialdiagnostik der Hörstörungen

CME-Fragen Differenzialdiagnostik der Hörstörungen

A B C D E

2 A B C D E

3 A B C D E

4 A B C D E

5 A B C D E

Die Prävalenz der Schwerhörigkeit in Deutschland beträgt unter den über 14-Jährigen 11 %. 15 %. 19 %. 23 %. 28 %. Welche Aussage zur Schallleitungsschwerhörigkeit trifft nicht zu? Eine Carhart-Senke findet sich bei Otosklerose. Die Stimmgabeltests ermöglichen die Unterscheidung von Schallleitungs- und Schallempfindungsschwerhörigkeit. Das Recruitment ist generell negativ. Eine Kettenunterbrechung kann Schallleitungskomponenten bis 60 dB verursachen. Die Schallleitungskomponente ist beim Paukenerguss in den tiefen Frequenzen ausgeprägter. Wann sollte man an eine retrokochleäre Ursache einer Schwerhörigkeit denken? Wenn junge Patienten betroffen sind. Wenn die Schwerhörigkeit mit Schwindel einhergeht. Wenn die Schwerhörigkeit einseitig ist. Wenn das Sprachaudiogramm schlechter ausfällt, als es das Tonaudiogramm erwarten lässt. Wenn der Tinnitus in der Intensität schwankt. Welche Aussage trifft nicht zu?

Ein überhöhter Gipfel im Tympanogramm weist auf eine Kettenluxation hin. Die Otosklerose beginnt häufig mit einer Tieftonschallleitungsschwerhörigkeit. In der Impedanzaudiometrie zeigt sich bei der Otosklerose ein erniedrigter Typ A. Das Gusher-Phänomen beruht auf einem endolymphatischen Hydrops. Die Nekrose des langen Ambossschenkels ist eine Differenzialdiagose der Otosklerose. Für die Schallempfindungsschwerhörigkeiten gilt nicht :

6 A B C D E

7 A B C D E

8 A B C D E

9 A B C D E

Welche Aussage passt nicht zum Knalltrauma?

Ursache sind Pegel > 140 dB. Der Druckanstieg beträgt > 2 mS. Das Trommelfell ist intakt. Es entsteht eine c5-Senke. Es geht mit Tinnitus einher. Welches Medikament wirkt nicht ototoxisch?

Streptomycin Tobramycin Furosemid Cisplatin Clindamycin Zur Unterscheidung einer kochleären von einer retrokochleären Schwerhörigkeit wird nicht herangezogen: überschwellige Audiometrie TEOAE Stapediusreflexe BERA Tympanogramm Welche Aussage zum Stapediusreflex trifft zu?

Er ist beim Gusher-Phänomen immer in allen Frequenzen ausgefallen. Er bedarf der aktiven Mitarbeit des Patienten. Er beweist bei retrokochleärer Schwerhörigkeit einen positiven Lautheitsausgleich. Er ist bei beidseitiger Trommelfellperforation kontralateral auslösbar. Er wird 70–90 dB über der Hörschwelle ausgelöst.

10

Welche Aussage trifft zu? Das CT dient der Erkennung

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einer Ossikelkettenluxation. einer Rundfenstermembranruptur. einer Lärmschwerhörigkeit. Vestibularisschwannom eines Endolymphhydrops.

Sie sind durch TEOAEs objektivierbar. Ihre Prävalenz steigt mit dem Alter. Sie hat bis 50 dB keinen Einfluss auf die Stapediusreflexschwelle. Ihre Ursache ist rein genetischer Natur. Progrediente Hörverluste nach Lärmabstinenz sprechen nicht für eine Lärmschwerhörigkeit.

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Facharztwissen-HNO 715

CME-Fortbildung mit der Laryngo-Rhino-Otologie

Die Fortbildungseinheit In den einheitlichen Bewertungskriterien der Bundesärztekammer ist festgelegt: „Die Grundeinheit der Fortbildungsaktivitäten ist der Fortbildungspunkt. Dieser entspricht in der Regel einer abgeschlossenen Fortbildungsstunde (45 Minuten)“. Für die erworbenen Fortbildungspunkte muss ein Nachweis erbracht werden. Hat man die erforderliche Anzahl von 250 Punkten gesammelt, kann man das Fortbildungszertifikat bei seiner Ärztekammer beantragen, welches man wiederum bei der KV (niedergelassene Ärzte) oder bei seinem Klinikträger (Klinikärzte) vorlegen muss. Anerkennung der CME-Beiträge Die Fortbildung in der Laryngo-Rhino-Otologie wurde von der Nordrheinischen Akademie für Ärztliche Fort- und Weiterbildung für das Fortbildungszertifikat anerkannt, das heißt, die Vergabe der Punkte kann direkt durch die Thieme Verlagsgruppe erfolgen. Die Fortbildung in der Laryngo-Rhino-Otologiegehört zur Kategorie „strukturierte interaktive Fortbildung“. Entsprechend einer Absprache der Ärztekammern werden die von der Nordrheinischen Akademie für Ärztliche Fort- und Weiterbildung anerkannten Fortbildungs-

veranstaltungen auch von den anderen zertifizierenden Ärztekammern anerkannt.

Datenschutz Ihre Daten werden ausschließlich für die Bearbeitung dieser Fortbildungseinheit verwendet. Es erfolgt keine Speicherung der Ergebnisse über die für die Bearbeitung der Fortbildungseinheit notwendige Zeit hinaus. Die Daten werden nach Versand der Testate anonymisiert. Namens- und Adressangaben dienen nur dem Versand der Testate. Die Angaben zur Person dienen nur statistischen Zwecken und werden von den Adressangaben getrennt und anonymisiert verarbeitet. Teilnahme Jede Ärztin und jeder Arzt soll das Fortbildungszertifikat erlangen können. Deshalb ist die Teilnahme am CME-Programm der Laryngo-Rhino-Otologie nicht an ein Abonnement geknüpft! Die Teilnahme ist im Internet (http://cme.thieme.de) möglich. Im Internet muss man sich registrieren, wobei die Teilnahme an Fortbildungen abonnierter Zeitschriften ohne Zusatzkosten möglich ist. Teilnahmebedingungen Für eine Fortbildungseinheit erhalten Sie 3 Fortbildungspunkte im Rahmen des Fortbildungszertifikates. Hierfür müssen 70% der Fragen richtig beantwortet sein. CME-Wertmarke für Nicht-Abonnenten Teilnehmer, die nicht Abonnenten der Laryngo-Rhino-Otologie sind, können für die Internet-Teilnahme dort direkt ein Guthaben einrichten, von dem pro Teilnahme ein Unkostenbeitrag abgebucht wird. Teilnahme online möglich unter http://cme.thieme.de

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Zertifizierte Fortbildung Hinter der Abkürzung CME verbirgt sich „continuing medical education“, also kontinuierliche medizinische Fort- und Weiterbildung. Zur Dokumentation der kontinuierlichen Fortbildung der Ärzte wurde das Fortbildungszertifikat der Ärztekammern etabliert. Hauptzielgruppe für das Fortbildungszertifikat sind Ärzte mit abgeschlossener Facharztausbildung, die im 5-jährigen Turnus einen Fortbildungsnachweis erbringen müssen. Es ist jedoch auch für Ärzte in der Facharztweiterbildung gedacht.

[Differential diagnosis of hearing disorders].

Hearing impairment is considered as the most common impairment of a human sense system. According to WHO, 360 Million people worldwide were affected b...
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