Bundesgesundheitsbl Gesundheitsforsch - Gesundheitsschutz 2002 · 45:455–457 © Springer-Verlag 2002

In der Diskussion R.Rychlik Institut für Empirische Gesundheitsökonomie,Burscheid

Die Kostenstruktur des Schmerzes

Die Kostenstruktur des Schmerzes wird von gesellschaftlichen und kulturellen Normen geprägt, wobei die Kosten des Schmerzes als Symptom retrospektiv oder aus bestehenden Statistiken nicht evaluiert werden können. Da eine “Schmerzkrankheit” bislang nicht für Statistiken definiert wurde, bestehen erhebliche methodische Schwierigkeiten, die Kosten des Schmerzes zu ermitteln. Ohne Beschreibung der Perspektive (Patient, Arzt, Krankenkasse) ist nicht einmal die Zuordnung der Effekte und der hieraus resultierenden Kosten (direkt, indirekt, intangibel) möglich. Maßgebliche Parameter sind die Intensität des Schmerzes und seine Dauer, also Zeit, wobei die kostentreibenden Faktoren die Gesamtheit des deutschen Gesundheitswesens abbilden: Arztbesuche, Dauer der Medikation, Hospitalisierung, Pflege und Berentung. Prospektive Krankheitskostenstudien geordnet nach Krankheitsbildern unter Einbeziehung der Lebensqualität von Patienten und Angehörigen sind notwendig, um die Kosten des Schmerzes zu ermitteln.

E

s fällt schwer, den Begriff Schmerz und erst recht seinen Inhalt mit dem Begriff Kosten zu assoziieren. Dennoch müssen wir uns daran gewöhnen, dass die Vermeidung oder Behandlung von krankhaften Zuständen mit Kosten verbunden ist. Dabei ist es unerheblich, ob bei akutem körperlichen Schmerz dieser als Symptom oder Begleiterscheinung einer definierten Krankheit oder aber bei nicht ausreichender Behandlungsfähigkeit chronischer Krankheitsbilder als “Schmerzkrankheit” bezeichnet wird. Tatsächlich tritt der Schmerz in nahezu allen vorliegenden Statistiken wie der ICD (International Classification of Diseases) oder der Krankheitsartenstatistik nicht als eigenständiges Krankheitsbild auf, so dass eine retrospektive Erfassung zuordnungsfähiger Kosten unmöglich ist. Dabei müssen Schmerzen nicht zwangsläufig Kosten verursachen. Leichte Schmerzen können subjektiv unterdrückt werden, aber auch schwere Schmerzen werden in verschiedenen Kulturen bis heute tabuisiert und hingenommen. Teilweise gilt es als Ausdruck des Charakters und der Persönlichkeitsstärke, auf die “Zähne beißen” zu können. Deshalb bleibt die Behandlungswürdigkeit des Schmerzes ein gesellschaftliches und kulturabhängiges Phänomen. Damit entzieht sich Schmerz sowohl als Symptom als auch als Krankheitsbild weitgehend einer gesundheitsökonomischen Betrachtung, bzw. lässt sich mit der Methodologie der Ökonomie nur schwer abbilden.

Effekte und Kosten Grundsätzlich lassen sich allen messbaren Effekten Kosten (Preis x Menge) zuordnen. Schmerz weist immer eine Intensität in einer Zeiteinheit auf, lässt sich also operationalisieren und zumindest kardinal (ordinal) abbilden. Eine metrische Zuordnung ist ungenau, da die subjektive Bewertung im Vordergrund steht (z. B. visuelle Analogskalen). Unterschieden werden direkte, indirekte oder volkswirtschaftliche und intangible Effekte. E. Wille geht in seiner Begrifflichkeit vom Nutzen einer medizinischen Leistung aus bzw. spricht allgemein von Effekten einer medizinischen Maßnahme. Diese Effekte können aber auch negativer Natur sein und verursachen damit Kosten [1]. Direkte Kosten sind in der Gesundheitsökonomie diejenigen Kosten, die sich aus einer Behandlung oder einer Therapie ergeben und dieser direkt zurechenbar sind. Direkte Kosten werden daher oftmals auch als medizinische Kosten bezeichnet. Es gibt jedoch auch direkte nicht-medizinische Kosten, wie z. B. Personal- und Verwaltungskosten (Tabelle 1) [2]. In den Deutschen Empfehlungen zur gesundheitsökonomischen Evaluation werden indirekte Kosten definiert als “alle Ressourcenverbräuche, die mitProf. Dr. med. Dr. rer. soc. Reinhard Rychlik Institut für Empirische Gesundheitsökonomie, Am Ziegelfeld 28, 51399 Burscheid, E-Mail:[email protected]

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In der Diskussion Tabelle 1

Direkte Kosten und ihre Kostenursachen [3] Kostenart

Kostenursache

Direkte Kosten (medizinische Kosten)

Diagnostik, medikamentöse Therapie (auch Selbstmedikation), Begleitmedikation/-behandlung, Anschlussmedikation/ -behandlung, Folgen der Noncompliance, Neben- und Wechselwirkungen,Therapiedauer, ärztliche Betreuung, Arztbesuche, Facharzt-/Krankenhausüberweisungen, stationäre Behandlung, Operationen, Rehabilitation/Kur, Pflegekosten

Tabelle 2

Indirekte Kosten und ihre Kostenursachen [6] Kostenart

Kostenursache

Indirekte Kosten

Arbeitsausfall, Krankenhaustagegeld, Lohn-/Gehaltsfortzahlung, Pflege/Invalidität,Wohnungsumbau,Transportkosten, Berentung/Berufsunfähigkeit,Todesfall/Sterbegeld, Zeitaufwand der Angehörigen

telbar durch die Behandlung bzw. Erkrankung verursacht werden.” Dazu zählen z. B. die krankheitsbedingten Produktivitätsverluste am Arbeitsplatz sowie bei unentgeltlicher Arbeit (z. B. Hausarbeit) [4]. Jede Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung, die ein Arzt ausstellt, führt zu einer Ausgliederung des Patienten aus dem Arbeitsprozess. Dauert diese Arbeitsunfähigkeit sogar über einen längeren Zeitraum an, so kann sie langfristig zur Kündigung des Arbeitsverhältnisses führen. Die Ausgliederung des Patienten als Arbeitnehmer aus dem Produktionsprozess schmälert nicht nur das Bruttoinlandsprodukt, sondern führt unter Umständen auch zu einer Steigerung der Arbeitslosigkeit. Ein zentraler Punkt in diesem Zusammenhang ist die Tatsache, dass die Solidargemein-

schaft, wie sie derzeit existiert, von den Beiträgen der Arbeitnehmer und Arbeitgeber abhängig ist. Arbeitsunfähigkeit und steigende Arbeitslosigkeit führen konsequenterweise zu einer Entsolidarisierung der Solidargemeinschaft (Tabelle 2) [5]. Der Begriff der intangiblen Kosten wird in der Finanzwirtschaft definiert als Wirkungen, die sich entweder nicht quantifizieren lassen oder für die keine Bewertung über den Markt möglich ist, wie z.B. die Auswirkungen eines Straßenbauprojektes auf die Landschaft, Tierwelt oder die Erholungsmöglichkeiten in der betroffenen Umgebung [7]. Gerade in der Medizin ist die Bewertung sämtlicher Wirkungsweisen einer Präventionsmaßnahme, einer Therapie oder sonstigen medizinischen Leistung

Tabelle 3

Intangible Kosten und ihre Kostenursachen [8] Kostenart

Kostenursache

Intangible Kosten (ohne objektivierbaren Somatische Faktoren: Schmerz, Behinderung, Entstellung, Geldwert – Lebensqualität) Mobilität, Schlaf, Sexualfunktion Mentale Faktoren: Reaktion, Konzentration, Gedächtnis Psychische Faktoren: Angst, Depression, Unruhe, Apathie Soziale Faktoren: Isolation, Konflikt, Abhängigkeit, entgangene Freizeit

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von großer Relevanz, da Gesundheit einen subjektiven Wert darstellt. Die Ausgrenzung subjektiver Wertschätzung und die Reduktion des Gesundheitsbegriffs auf klinische Parameter hätte für das betroffene Individuum fatale Folgen. Die Einbeziehung der Lebensqualität in die Bewertung gesundheitsbezogener Maßnahmen wird dem Gesundheitsbegriff der WHO gerecht, der psychische und soziale Aspekte mit einschließt, insbesondere die subjektive Einschätzung des betroffenen Patienten (Tabelle 3). Wie aus den Ausführungen deutlich wird, hängt die Bewertung von Kosten stark von der Perspektive des Betrachtenden ab. Zu unterscheiden sind die Perspektiven der Nachfrager (Patient), der Leistungserbringer (z. B. Arzt), der Leistungserstatter (z. B. GKV) aber auch der Gesellschaft. Schmerz kann für den Nachfrager zunächst existieren oder nicht und damit als wichtig oder unwichtig eingestuft werden. Stuft der Nachfrager Schmerz als wichtig ein, heißt dies nicht automatisch, dass externe Hilfe in Anspruch genommen wird. Schmerzqualität, -intensität und -dauer sind zwar maßgeblich, führen aber nicht immer zu vorhersagbaren Reaktionen. Möglicherweise wird neben therapeutischem Nihilismus Selbstmedikation oder Nächstenhilfe gesucht. Es wird auch nicht immer zwangsläufig ein Arzt in Anspruch genommen. Heilpraktiker decken ein weites Feld des Schmerzes ab, ebenso Psychotherapeuten. Die Kostengenerierung selber muss deshalb auch nicht unbedingt zur Belastung der gesetzlichen Krankenversicherung führen. Was bleibt ist die Zuordnung der Kostenarten:

◗ Direkte Kosten interessieren den Nachfrager nur bei direkter Belastung oder Zuzahlung, jedoch nicht bei Inanspruchnahme der Kassenerstattung. Für den Leistungserbringer sind sie insbesondere bei verschiedenen Honorarformen wichtig. Für die GKV (gesetzliche Krankenversicherung) und die PKV (private Krankenversicherung) sind direkte Kosten elementar. ◗ Indirekte Kosten als Folge der Arbeitsunfähigkeit interessieren den Nachfrager wenig. Bei Pflege, Berufsunfähigkeit und vorzeitiger Berentung ist er aber sehr wohl betroffen. Dies interessiert auch den nächsten

Angehörigen. Arbeitsunfähigkeit bis zu sechs Wochen interessieren die meisten Leistungserbringer und -erstatter wenig, dafür aber die Arbeitgeber. ◗ Intangible Effekte, insbesondere die Einbuße der Lebensqualität, sind für den Nachfrager und seinen nächsten Angehörigen sowie für den behandelnden Arzt von elementarer Bedeutung. Im Leistungserstattungsbereich wird die Wiederherstellung von Lebensqualität jedoch nicht erstattet.

Die Kostenstruktur Wie bereits angemerkt, sind zwei Komponenten von erheblicher Bedeutung für die Zuordnung von Kosten zu Schmerzereignissen: die Intensität und die Dauer/Häufigkeit des Schmerzes. Während die Intensität des Schmerzes nicht oder nur unzureichend objektivierbar ist, sind Zeiteinheiten zumindest messbar, unterliegen aber ebenso einer großen subjektiven Streuung.Außerdem kann zwischen akutem Schmerz und chronischem Schmerz unterschieden werden.Alle Qualitäten führen zu unterschiedlichen Interventionen und damit auch Kosten. Kostentreibend sind die Zahl der Arztbesuche, Dauermedikation, Hospitalisierung, insbesondere intensivmedizinische Behandlung, Pflege und Berentung. Wie bereits an anderer Stelle angemerkt, ist eine statistische Zuordnung in Deutschland jedoch nicht möglich, da Kosten Krankheitsbildern und nicht Symptomen zugeordnet werden. Eine Schmerzkrankheit ist bislang nicht definiert und in Statistiken verankert.

Auch in der Gesundheitsökonomie werden Krankheitskostenstudien (Ermittlung der so genannten “economic burden of illness”) durchgeführt. In den letzten beiden Jahren sind ca. 300 Publikationen zu den Kosten definierter Krankheitsbilder mit Schmerzzuständen erschienen, ca. 50 betrachteten zusätzlich die Dimension Lebensqualität (Ergebnisse einer Dimdi-Medline-Recherche). Beschrieben wurde der chronische Schmerzpatient im Allgemeinen [9]. Aber: “This review does not give an answer to whether multidisciplinary pain management in chronic pain patients is cost effective or not.”Weiter heißt es: “In the selected studies, we found serious methodological problems in study designs and application of outcome measures.” Gardea und Gatchel [10] ergänzen: “Chronic pain comprises a range of interdependent variables including biologic, cognitive, affective, behavioural and social factors.” Rheumathoide Arthritis, Prostatakarzinom,Rückenschmerzen,Menstruationsbeschwerden, nicht kardiale Brustschmerzen und postoperativer Schmerz sind in den letzten beiden Jahren Forschungsgegenstände gewesen. Methodisch empfohlen werden sog.“cost diaries” [11] und Fragebogenformulare [12]. Im selben Zeitraum wurde nur eine einzige Cost-of-illness-Studie vorgelegt,und zwar zu Rückenschmerzen in Großbritannien. Darin werden die direkten Kosten im Jahr 1998 auf 1632 Millionen englische Pfund geschätzt [13]. Bedauerlicherweise sind diese “Schätzansätze” zu Kosten in Ermangelung konkreter Daten und Statistiken auch in Deutschland weit verbreitet. Ohne Angabe der Schätzparameter und des Rechenmodells sind Schätzungen wertlos und unseriös. Sie verführen zum gegenseitigen Zitieren und behindern die notwendige exakte und korrekte Ermittlung der fehlenden Daten. Daher eröffnet sich für die Ermittlung der Kosten des Schmerzes ein weites und in Deutschland bislang kaum bearbeitetes wissenschaftliches Feld.

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