Leitthema Urologe 2014 · 53:323–326 DOI 10.1007/s00120-013-3349-4 Online publiziert: 14. März 2014 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014

Redaktion M. Goepel, Velberg R.M. Bauer, München

Inzidenz und Prävalenz von Harntraktsymptomen beim Mann nehmen mit dem Alter mindestens linear, wenn nicht sogar exponentiell zu [1]. Im Vordergrund der Ursachen stehen das benigne Prostatasyndrom (BPS) mit den möglichen Folgen der subvesikalen Obstruktion (BPO) und der Detrusorhyperaktivität (OAB). Daneben spielen operative Eingriffe im kleinen Becken (Rektum, Prostata) bei der Verursachung einer persistierenden Belastungsinkontinenz eine große Rolle. Auch aus Kliniken mit hoher Operationsfrequenz werden persistierende Inkontinenzraten von 4–8% nach radikaler Prostatektomie berichtet [2].

Abkürzungen DGU EAU AUA ICS AWMF

EERP RARP RRP BPS BPO OAB

Deutsche Gesellschaft für Urologie „European Association of Urology“ „American Urological Association“ „International Continence Society“ Arbeitsgemeinschaft der ­medizinisch-wissenschaftlichen ­Fachgesellschaften endoskopische extraperitonele radikale Prostatektomie roboterassistierte radikale ­Prostatektomie retropubische (offene) radikale Prostatektomie „benign prostatic syndrome“,­ ­benignes Prostatasyndrom „benign prostatic obstruction“, ­benigne Prostataobstruktion „overactive bladder“, überaktive Blase

M. Goepel Klinik für Urologie, Kinderurologie und Nephrologie, Klinikum Niederberg, Akademisches Lehrkrankenhaus der Universität Duisburg-Essen, Velbert

Diagnostik bei Belastungsinkontinenz des Mannes Ein Einfluss der verschiedenen Operationsmethoden auf die Kontinenzrate [endoskopische extraperitoneale radikale Prostatektomie (EERP), roboterassistierte radikale Prostatektomie (RARP), retropubische radikale Prostatektomie (RRP) etc.] ist bisher nicht randomisiert geprüft, scheint aber in Metaanalysen zugunsten der endoskopischen Techniken auszufallen [2]. Seltenere Ursachen von Harninkontinenz beim Mann sind neurogene Systemerkrankungen wie Morbus Parkinson, multiple Sklerose oder periphere­ Polyneuropathie bei Diabetes mellitus. Auch unerwünschte Medikamenten-Wirkungen sind zu prüfen.

Basisdiagnostik Die diagnostische Vorgehensweise bei männlicher Harninkontinenz richtet sich nach der Anamnese möglicher Ursachen, dem Schweregrad der Symptome, dem Therapiewunsch des Patienten und der existenten Komorbidität. Sinnvoller Weise erfolgt in den aktuell gültigen Leitlinien eine Unterteilung in (nicht-invasive) Basisdiagnostik und erweiterte (invasive) Diagnostik. Die Basisdiagnostik, der jeder inkontinente männliche Patient zugeführt werden sollte, umfasst nicht-invasive Untersuchungen (s. . Infobox 1). Nach Durchführung der Basisdia­ gnostik kann ein konservativer Therapieversuch unternommen werden, der sich nach Art und Ausmaß den individuellen Gegebenheiten und Therapiewünschen des Betroffenen und den bereits durchgeführten Therapien anpasst.

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Nach Durchführung der Basisdiagnostik kann ein konservativer Therapieversuch unternommen werden Auf die Ergebnisse der konservativen Therapie wird in diesem Heft an anderer Stelle eingegangen [8]. Bleibt eine konservative Therapie erfolglos, sind die Ergebnisse der Basisdiagnostik inkongruent oder soll eine operative Intervention geplant werden, ist eine erweiterte Diagnostik sinnvoll (s. . Infobox 2). Die nachfolgenden Schritte werden in der aktuellen Leitlinie der EAU als fakultativ beschrieben. Die urodynamische Untersuchung zeigt bei persistierender Harninkontinenz des Mannes klinisch nicht sicher erfassbare Phänomene wie eine maskierte Mischinkontinenz mit Detrusorüberaktivität in der frühen oder terminalen Füllphase sowie eine assoziierte reduzierte funktionelle Blasenkapazität. Die Messung der Detrusorkontraktion und des Auslasswider-

Abb. 1 8 Durchführung des Repositionierungstests nach Gozzi u. Bauer während einer Zystoskopie. (Mit freundl. Genehmigung von Frau PD Dr. RM Bauer, München) Der Urologe 3 · 2014 

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Zusammenfassung · Abstract Infobox 1  Basisdiagnostik der männlichen Harninkontinenz

Urologe 2014 · 53:323–326  DOI 10.1007/s00120-013-3349-4 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014

F Allgemeine Anamnese, spezielle

M. Goepel

­urologische Anamnese

F Körperliche Untersuchung F Urinanalyse F Uroflowmetrie F Sonographie des unteren Harntraktes (Restharn)

F Validierter Fragebogen zur ­Lebensqualität F Trink- und Miktionsprotokoll F Windelnwiegetest

Infobox 2  Erweiterte Diagnostik bei männlicher Harninkontinenz F Urodynamische Untersuchung F Urethrozystoskopie F Bulbuselevationstest nach Gozzi u. Bauer F Bildgebende Untersuchung des unteren Harntraktes:Perineale Sonographie, Urethrozysto­graphie (UCG), Zystogramm, Computertomographie (CT), Magnetresonanz­tomographie (MRT)

stands lässt Rückschlüsse auf die durch kompressive Therapieverfahren erreichbaren Ergebnisse zu (. Abb. 1). Durch endoskopische Untersuchungen kann die anatomische Situation und die Beweglichkeit des externen Sphinkters eingeschätzt werden. Intrasphinktäre Strikturen, die in der retrograden Urethrographie nicht zur Darstellung kommen, werden so detektiert und ggf. therapiert. Aktuelle Untersuchungen weisen darauf hin, dass der 2013 beschriebene Bulbuselevationstest während einer Zystoskopie in der Lage ist, die Erfolgsaussichten einer repositionierenden suburethralen Schlinge vorherzusagen und damit die Ergebnisse wesentlich zu verbessern ([7], . Abb. 1). Hierbei wird das Perineum dorsal der bulbären Harnröhre nach kranial komprimiert, um die Elevierbarkeit der Sphinkterregion nach intrapelvin zu kontrollieren. Zusätzlich wird eine aktive Kontraktion des Patienten beobachtet. Beträgt die „koaptive“ Strecke der Sphinkterregion ≥1 cm, kann ein Erfolg z. B. der Advance-Schlinge bei etwa 80% erwartet werden. Liegen diese Effekte nicht vor, sind die Ergebnisse wesentlich schlechter [7]. Schnittbildverfahren sind bisher nicht in die klinische Routine eingeführt wor-

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Diagnostik bei Belastungsinkontinenz des Mannes Zusammenfassung Harntraktsymptome („lower urinary tract symptoms“, LUTS) nehmen bei männlichen Patienten mit dem Alter zu. Hierfür kann das benigne Prostatasyndrom (BPS) mit den Folgen der subvesikalen Obstruktion und der reaktiven Detrusorhyperaktivität verantwortlich sein. Andererseits wird eine persistierende männliche Belastungsinkontinenz nach operativen Eingriffen, v. a. nach radikaler Prostatektomie, beschrieben. Auch erfahrene Operateure beschreiben eine Inkontinenzrate von 2–4% im Langzeitverlauf nach radikaler Prostatektomie. Die Diagnostik der präsentierten Symptome am unteren Harntrakt des Mannes richtet sich zum einen nach der Anamnese, dem Schweregrad und dem Therapiewunsch des Betroffenen, zum anderen nach der existenten Komorbidität und dem biologischen Alter des Patienten. Angelehnt an die Leitlinien von Gesellschaft für Urologie (DGU), „Eurpean Association of Urology“ (EAU), „American Urological Association“ (AUA) und „International

Continence Society“ (ICS) erfolgt eine Diagnostik der Harninkontinenz in zwei Schritten als Basisdiagnostik und erweiterte Diagnostik. Nach der Basisdiagnostik wird ein konservativer Therapieversuch empfohlen, wenn dies nicht bereits geschehen ist. Bleibt dieser Versuch erfolglos, wird die erweiterte Diagnostik angeschlossen. Auch vor operativen Therapieversuchen mit suburethralen Bändern, artefiziellen Schließmuskeln oder Sakralforamenstimulatoren ist eine erweiterte Diagnostik inklusive (Video-)Zystomanometrie und Bildgebung erforderlich. Art und Ausmaß der Bildgebung (UCG, Zystogramm, CT, MRT) richtet sich wiederum nach der Fragestellung und der geplanten Therapie. Schlüsselwörter Harntraktsymptome · Prostatasyndrom, benignes · Obstruktion, subvesikale · Detrusorhyperaktivität · Prostatektomie, radikale

Diagnosis of urinary stress incontinence in men Abstract Male lower urinary tract symptoms (LUTS) occur more frequently with increasing age. LUTS can either be caused by benign prostatic syndrome (BPS) and consecutive subvesical obstruction as well as detrusor hyperactivity. On the other hand, stress urinary incontinence is mostly seen after surgical intervention in the pelvis like radical prostatectomy. Also high volume centers report persisting incontinence rates of 2–4 % after radical prostatectomy. The diagnostic procedure in men with LUTS is divided in two steps: basic diagnostics, followed by a conservative treatment option, and extended diagnostic procedures including measurement of bladder pressure

den, wenngleich prospektive Untersuchungen vor und nach Platzierung einer suburethralen Schlinge bei Postprostatektomieinkontinenz dem dynamischen MRT einen Vorhersagewert des postoperativen Erfolgs bescheinigen [9]. Therapeutisch kommen bei männlicher Belastungsinkontinenz suburethrale Schlingensysteme mit und ohne kompressive Wirkung und artefizielle Sphink-

during filling and voiding. In addition, radiologic examinations, including voiding cystouretherogram, retrograde cystogram, CT scan, MRI scan, are added according to the severity of the symptoms and the scheduled surgical procedure. According to the guidelines of the DGU, EAU, AUA, and ICS, this extended examination is also mandatory prior to any surgical procedure like suburethral tapes, artificial sphincters, and sacral foramen neuronal stimulators. Keywords Lower urinary tract symptoms · Prostatic syndrome, benign · Obstruction, subvesical · Overactive detrusor · Prostatectomy, radical

tersysteme zum Einsatz. Die Indikationsbreiten der verschiedenen Methoden werden expertiseabhängig unterschiedlich beschrieben. Eine Leitlinie, welches System bei welcher Befundkonstellation eingesetzt werden soll, existiert bisher national oder international nicht.

Lesetipp Fazit für die Praxis

Literatur

F Harninkontinente Männer weisen unterschiedliche Symptomenkonstellationen und Befunde auf. Hauptursache einer Belastungsinkontinenz beim Mann ist die radikale ­Prostatektomie. F Die hier angeführte Diagnostik, untergliedert in Basis- und erweiterte Diagnostik, soll diese Ursachen detektieren und so den Patienten einer zielgerichteten und damit letztlich möglichst erfolgreichen Therapie zuführen. Verschiedene internationale Leitlinien geben Empfehlungen zum differenzierten diagnostischen Vorgehen. Eine nationale Leitlinie zu dieser Frage fehlt aktuell. F Nach der nicht-invasiven Basisdia­ gnostik soll zunächst eine konservative Therapie der männlichen Harninkontinenz versucht werden. Bleibt dieser Versuch erfolglos, wird eine ­erweiterte Diagnostik mit Urodynamik, Endoskopie und Bildgebung angeschlossen, die sich individuell nach dem Schweregrad der Beschwerden, dem Therapiewunsch des Patienten und der existenten Komorbidität richtet. Neuere dynamische Verfahren während einer Endoskopie sind in der Lage, differentialtherapeutische Entscheidungen zu unterstützen.

1. Goepel M, Hoffmann JA, Piro M et al (2002) Prevalence and physician awareness of symptoms of urinary bladder dysfunction. Eur Urol 41:234–239 2. Ficarra V, Novarra G, Rosen RC et al (2012) Systematic review and meta-analysis of studies reporting urinary incontinence recovery after robot-assisted radical prostatectomy. Eur Urol 62:405–417 3. DGU (2013) Leitlinie der DGU. DGU, Düsseldorf. http://www.awmf-online.org (keine aktuelle Leitlinie existent) 4. EAU (2013) Leitlinie der EAU. EAU, Arnhem, The Netherlands. http://www.urowb.org 5. AUA (2013) Leitlinie der AUA. Aua, Linthicum, USA. http://www.auanet.org 6. ICS (2013) Leitlinie der ICS. http://wiki.ics.org 7. Bauer RM, Gozzi C, Roosen A et al (2013) Impact of the „repositioning test“ on postoperative outcome of retroluminar transobturator male sling implantation. Urol Int 90:334–338 8. Kirschner-Hermanns R, Anding R, Stief CG et al (2013) Imaging diagnostics of the male pelvic floor. Urologe A 52:527–532 9. Soljanik I, Bauer RM, Becker AJ et al (2013) Morphology and dynamics of the male pelvis floor before and after retrourethral sling placement: first insight using MRI. World J Urol 31:628–638

Einhaltung ethischer Richtlinien Interessenkonflikt.  Mark Goepel gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht. Dieser Beitrag beinhaltet keine Studien an Menschen oder Tieren.

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Das Thema Patientensicherheit hat in der Gesundheitsversorgung in den letzten Jahren zunehmend an Bedeutung gewonnen. Der offene Umgang und Austausch über unerwünschte Ereignisse wird jedoch bislang eher selten gepflegt, obwohl Studien zeigen, dass in Kliniken in denen ein Fehlerwarnsystem („critical incident reporting systems“, CIRS) genutzt wird, die Rate an unerwünschten Ereignissen abnimmt. Das Leitthemenheft „Patientensicherheit“ von Der Unfallchirurg (Ausgabe 10/2013) regt in folgenden Beiträgen dazu an, sich mit dem Thema auseinander zu setzen, bekannte Möglichkeiten zu nutzen, aber auch über weitere Möglichkeiten nachzudenken: F Patientensicherheit in der Versorgungsforschung F Das Aufklärungsgespräch als Teil der Patientensicherheit in der Kindertraumatologie F Was bedeutet Sicherheit im Krankenhaus? F „Human factors“ und „crisis resource management“ F Verbessern simulatorbasierte Teamtrainings die Patientensicherheit? Bestellen Sie diese Ausgabe zum Preis von 36,- EUR zzgl. Versandkosten bei Springer Customer Service Center Kundenservice Zeitschriften Haberstr. 7 69126 Heidelberg Tel.: +49 6221-345-4303 Fax: +49 6221-345-4229 E-Mail: [email protected]

Korrespondenzadresse Prof. Dr. M. Goepel Klinik für Urologie, Kinderurologie und Nephrologie, Klinikum Niederberg, Akademisches Lehrkrankenhaus der Universität Duisburg-Essen, Robert-Koch-Straße 2, 42549 Velbert goepel@ klinikum-niederberg.de

Wie können wir die Patientensicherheit verbessern?

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[Diagnosis of urinary stress incontinence in men].

Male lower urinary tract symptoms (LUTS) occur more frequently with increasing age. LUTS can either be caused by benign prostatic syndrome (BPS) and c...
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