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Entwicklung des Notarztwesens in Deutschland

Ostdeutschland Uwe Ebmeyer • Wolfgang Röse

Die Entwicklung des ärztlichen Rettungsdienstes in der DDR führte seit 1960 nach ersten unfallchirurgisch orientierten Versorgungsstrategien zum schrittweisen Aufbau des Systems der Schnellen Medizinischen Hilfe (SMH). Im Zentrum des SMH-Systems standen die Dringliche Medizinische Hilfe (DMH) für die Versorgung vital gefährdeter Patienten und der Dringliche Hausbesuchsdienst (DHD) für die primär ambulante Betreuung von Notfallpatienten. Dieser Artikel gibt einen Überblick über die Geschichte des Notarztwesens in Ostdeutschland. Erste regionale Initiativen (1960–1967)



Erste Versuche Die präklinische Betreuung von Notfallpatienten lief wie in vielen anderen Ländern auch in der DDR zunächst weitgehend improvisiert ab. Ende der 1950er-Jahre gab es insbesondere von chirurgischer Seite in der DDR erste Versuche, ärztliche Ersthilfe an den Notfallort vorzuverlegen – eingedenk der bereits 1938 durch den Chirurgen Martin Kirschner (1879–1942) getroffenen Feststellung, dass die Lebensgefahr in der größten zeitlichen Nähe eines Unfallereignisses am größten sei und die Wahrscheinlichkeit, am Leben zu bleiben, mit jeder erlebten Stunde größer würde. Einsatzwagen mit Anästhesisten Der Ordinarius für Chirurgie an der damaligen Medizinischen Akademie Magdeburg, Werner Lembcke (1909–1989), konnte bereits 1960 über die Einrichtung eines mit Anästhesisten besetzten Einsatzwagens berichten (q Abb. 1) [1]. Das Fahrzeug war in Zusammenarbeit mit der Magdeburger Feuerwehr unter dem Namen „Schnelle Hilfe“ in Dienst gestellt worden. Es versorgte die Bezirkshauptstadt mit 290 000 Einwohnern und 70 km der nördlich angrenzenden Autobahn Berlin–Helmstedt im 24-Stunden-Dienst. Ebenfalls auf chirurgische Initiative wurden an den Universitätskliniken in Greifswald und Jena arztbesetzte Rettungsfahrzeuge eingerichtet [2, 3]. Patientenzusammensetzung Erste Analysen zeigten, dass die ursprünglich für die Versorgung von Unfallverletzten vor-

gesehenen Schnelle-Hilfe-Wagen auch von Personen in Anspruch genommen wurden, die infolge einer akuten Erkrankung oder einer Vergiftung in Not geraten waren. Deren Anteil betrug bereits in den Jahren 1960–1962 bei den Magdeburger Notfallpatienten fast 40 % [4]. Ähnliche Erfahrungen gewannen Gerber und Kubo mit ihrem 1963 in Dienst gestellten Einsatzfahrzeug in Berlin-Köpenick [5]. Auch Scheidler fand bei der Auswertung von 1200 Einsätzen des Berlin-Friedrichshainer Notarztwagens, dass in 2 Drittel der Fälle Vergiftungen und andere internistische Notfallsituationen Einsatzanlass waren [6]. Burkhardt (ehem. Karl-MarxStadt [heute Chemnitz]) berichtete 1968 auf dem 2. Kongress der Gesellschaft für Anästhesiologie und Reanimation der DDR über 36 lebensrettende Einsätze, davon 17 bei Nicht-Unfall-Patienten unter 2410 in einem Jahr registrierten Notarztfahrten [7].

Lufttransport Nur in sehr seltenen Fällen und unter besonders schwierigen organisatorischen Bedingungen konnte unter Mitwirkung sowjetischer Streitkräfte ein Lufttransport durchgeführt werden.

Systematischer Aufbau (1967–1976)



Politische Planung Mit der Zeit sammelte man notfallepidemiologische Erkenntnisse des In- und Auslandes und Erfahrungen mit den bestehenden, noch sehr unterschiedlich ausgestatteten und funktionierenden Notarztwagen. Dies

veranlasste das Ministerium für Gesundheitswesen der DDR (MfGe), eine „Problemkommission Dringliche Medizinische Hilfe“ beim Rat für Planung und Koordinierung der Medizinischen Wissenschaften einzurichten und mit der Erarbeitung von landesweit umsetzbaren Lösungsvorschlägen zu beauftragen. Das Resultat dieser Vorarbeiten führte schließlich zur Anweisung Nr. 1 über die Dringliche Medizinische Hilfe vom 17.7.1967, ratifiziert durch das MfGe und das Präsidium des Deutschen Roten Kreuzes der DDR [8].

Inhalt der Anweisung In der Präambel dieser Anweisung hieß es u. a.: „Die Vielzahl der Erfahrungen zeigt, dass es für Unfallverletzte oder Personen in akut lebensbedrohlichen Zuständen lebensrettend sein kann, wenn sofort nach dem Eintritt des lebensbedrohlichen Zustandes eine Behandlung im Sinne der Ersten Hilfe durchgeführt wird. Dazu ist neben dem organisierten Nacht- und Bereitschaftsdienst der Einsatz spezieller Fahrzeuge mit ärztlicher Besetzung zu jeder Tages- und Nachtzeit erforderlich. Zur Sicherung der medizinischen Betreuung von Personen in akuten lebensbedrohlichen Zuständen sowohl am Eintritt des lebensbedrohlichen Zustandes als auch während des Transportes in die medizinische Einrichtung ist daher die Organisierung und der schrittweise Aufbau der ‚Dringlichen Medizinischen Hilfe‘ erforderlich“ [8]. Schwerpunkte Als Schwerpunkte waren in dieser Richtlinie u. a. festgelegt worden: ▶ eine regionale Planung entsprechend den örtlichen Gegebenheiten ▶ die vorrangige Weiterentwicklung in Ballungsgebieten, in denen bereits vorbereitende Schritte eingeleitet worden waren (Halle, Dresden, Karl-MarxStadt, Leipzig, Magdeburg, Rostock, Berlin) ▶ die Bereitstellung und standardisierte Ausrüstung der benötigten Fahrzeuge durch das DRK

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Regionale Analysen Diese wenigen überregionalen statistischen Angaben wurden durch vorwiegend regionale quantitative (seltener qualitative) Analysen ergänzt. So wurden für die 8 OstBerliner Stadtbezirke 1968 Hilfsfristen zwischen 5 und 10 min festgestellt. Zum DMH-Einsatz führten ▶ schwere, plötzliche Erkrankungen in > 50 %, ▶ Unfälle in 30 % und ▶ Vergiftungen in 12 % der Fälle. Bei 7,5 % dieser Patienten bestand akute Lebensgefahr; bei 45,5 % ein akut behandlungsbedürftiger Zustand [10]. HerzKreislauf-Versagen als dominierende Todesursache am Notfallort wurde übereinstimmend in insgesamt 690 Obduktionsbefunden von DMH-versorgten Notfallopfern aus Magdeburg (1960–1967) und Wismar (1970–1979) festgestellt. In Magdeburg betrug deren Anteil 43,3 % [11]; in Wismar waren es 49,9 % [12]. Ausbildungsprogramme Als wichtige flankierende Maßnahmen für die Gewinnung und Qualifizierung des notärztlichen Nachwuchses sind die überarbeiteten Ausbildungsprogramme für das Medizinstudium aus dem Jahre 1969 aufzuführen. Danach wurden einheitlich und verbindlich die „Grundlagen der Ersten Hilfe“ mit 35 Stunden im 1. Studienjahr und ein interdisziplinär gestalteter Lehrkomplex „Notfallsituationen“ im 5. Studienjahr eingeführt [13]. Für die postgraduale Qualifikation der Notärzte übernahm der 1972 gegründete Lehrstuhl für Notfallmedizin an der Aka-

Abb. 1 Der erste in der DDR eingesetzte arztbesetzte Rettungswagen in Magdeburg (IFA-Phänomen vom Bautyp Granit). 1960 (Privatsammlung Röse).

demie für Ärztliche Fortbildung mit jährlich abgehaltenen Kursen, regionalen Tagungen, Veröffentlichungen und überregionalen Kongressen eine wichtige Rolle.

Erweiterung der präklinischen Notfallbetreuung (1976–1990)



Erfahrungen aus dem Einsatz der DMH Fast 10-jährige Erfahrungen mit dem nach und nach für 80 % der DDR-Bevölkerung erreichbaren DMH-System wie auch internationale Entwicklungen machten Mitte der 70er-Jahre neue Entscheidungen für die landesweite Organisation der präklinischen Notfallmedizin erforderlich. Einerseits hatte sich gezeigt, dass die DMH-Einsätze in rund 15 % lebensrettend waren. Andererseits waren jedoch trotz intensiver Schulung des Personals der DRK-Dispatcherzentralen mehr als 50 % der DMH-Fahrten zwar medizinisch begründet, aber nicht dringlich. Ca. 20 % aller Einsätze mussten als Fehleinsätze angesehen werden. Budapester Notfalldefinition Gleichzeitig hatte eine Expertenkonferenz im Auftrag der Gesundheitsministerien der RGW-Länder (RGW = Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe) 1974 eine Überarbeitung der bisherigen Begriffsbestimmung für medizinische Notfälle vorgenommen [14, 15]. Diese auch als „Budapester Notfalldefinition“ bekannte Formulierung lautete:

„Medizinische Notfälle sind alle akuten pathologischen Zustände, die durch äußere oder innere Faktoren hervorgerufen werden, und die, unabhängig vom Schweregrad des Zustandes des Kranken, der Sofortdiagnostik und zielgerichteten Therapie bedürfen“.

Kategorien Notfälle wurden gemäß dieser Definition in die folgenden Kategorien unterteilt: ▶ unmittelbare Lebensbedrohung, die ohne rechtzeitige medizinische Hilfe zum Exitus letalis führen kann (a) ▶ Nichtvorliegen unmittelbarer Lebensbedrohung, jedoch kann, ausgehend vom pathologischen Zustand, jederzeit eine Vitalbedrohung eintreten (b) ▶ Nichtvorliegen einer Lebensbedrohung, jedoch kann durch Verzögerung wirksamer Hilfe im Organismus oder in einzelnen Organen bleibender Schaden entstehen (c) ▶ Nichtvorliegen einer Lebensbedrohung, jedoch muss zur Linderung subjektiver Erscheinungen dem Patienten in kurzer Frist Hilfe gewährt werden (d) ▶ Nichtvorliegen einer Lebensbedrohung, jedoch erfordert das Verhalten des Patienten im Interesse seiner Mitmenschen einen sofortigen Eingriff (e) Schnelle Medizinische Hilfe Als Oberbegriff für die Betreuung der untergliederten Kategorien außerklinischer Notzustände wurde in der DDR der Begriff „Schnelle Medizinische Hilfe“ (SMH) eingeführt (q Abb. 2).

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Entwicklung der DMH-Einrichtungen Zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieser Anweisung verfügten von 194 Kreisen mit Krankentransport-Dienststellen ▶ nur 39 (20,1 %) über eine örtliche DMHEinrichtung. ▶ 1973 waren es 134 (69 %) und ▶ 1976 insgesamt 154 (79,4 %). Die Zahl der einsetzbaren DMH-Fahrzeuge stieg im gleichen Zeitraum von 45 über 182 auf 238. Die registrierte Anzahl der von der DMH versorgten Patienten in der DDR (ohne Ost-Berlin) erhöhte sich in 5 Jahren von 55 715 im Jahr 1971 auf 99 861 im Jahr 1976 [9].

Bildnachweis:Wolfgang Röse

▶ die Koordinierung der Einsatzanforderungen durch die Dispatcher-Zentralen des Krankentransports des DRK ▶ die Anforderungen an das begleitende medizinische Fachpersonal ▶ Finanzierung und Leistungserfassung

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Abb. 2 Das System der SMH und seine Krankenhausanbindung einschließlich „Budapester Notfallkategorien“ (Daten aus [23]).

Reorganisation Die 1974 neu festgelegten Notfallkategorien machten eine gründliche Reorganisation des Notarztwesens erforderlich. Sie fand ab 1976 auf der Grundlage der „Anweisungen Nr. 1 und 2 zum Aufbau der Schnellen Medizinischen Hilfe“ statt. Insbesondere letztere schrieb in einer „Rahmenordnung für die Leitung, Organisation und Planung der Schnellen Medizinischen Hilfe“ Einzelheiten für den Aufbau dieses differenzierten notfallmedizinischen Versorgungssystems vor. Inhalt der Anweisungen Zu Ziel, Inhalt und Grundsätzen hieß es u. a.: „Die SMH ist ein Leistungsbereich des staatlichen Gesundheitswesens der DDR. Der Minister für Gesundheitswesen regelt in Zusammenarbeit der an der SMH beteiligten zentralen staatlichen Organe und gesellschaftlichen Organisationen. In den Bezirken bzw. Kreisen tragen dafür die Bezirks- bzw. Kreisärzte die Verantwortung. Die SMH umfasst die DMH (mobile spezialisierte medizinische Betreuung) und den Dringlichen Hausbesuchsdienst DHD (mobile medizinische Grundbetreuung), die über eine einheitliche Leitstelle stabsmäßig koordiniert und geleitet werden. Gleichzeitig dient die SMH der Sicherung medizinischer Betreuungsmaßnahmen bei Katastrophen und folgenschweren Ereignissen“ [14]. Zur Vervollständigung der aufzubauenden Rettungskette wurde weiter festgelegt:

„Zur komplexen medizinischen Betreuung aller Notfallpatienten sind in den Betreuungsbereichen der SMH an geeigneten Krankenhäusern planmäßig Rettungsstellen und Intensivtherapieabteilungen zu schaffen“ [14].

Strukturelemente der SMH Als wesentliche Strukturelemente der SMH wurden definiert: ▶ die Leitstelle mit den Aufgaben der Annahme aller Notrufe über die einheitliche Telefonnummer 115 durch einen Dispatcher, der ständig ärztliche Beratungsmöglichkeit hat, und der Erteilung von Einsatzaufträgen an die entsprechenden Gruppen der SMH ▶ die DMH-Gruppe, bestehend aus einem Arzt mit Spezialkenntnissen in der Notfall- und Intensivmedizin, Krankenschwester oder -pfleger für Anästhesiologie bzw. andere medizinische Fachkraft mit entsprechenden Spezialkenntnissen und einem speziell ausgebildeten Krankentransporteur ▶ die DHD-Gruppe mit einem Arzt mit Kenntnissen in der Notfallmedizin (vorrangig Allgemeinmediziner, Pädiater und Ärzte des Betriebsgesundheitswesens) und einem Krankentransporteur mit Spezialkenntnissen Aufbau Mit dieser neuen SMH-Struktur waren die Voraussetzungen für eine funktionierende Rettungskette geschaffen worden. Für die Leitung der SMH wurde für die Bezirksstädte und für Kreise mit

mehr als 80 000 Einwohnern ein hauptberuflicher Ärztlicher Direktor vorgesehen; für die übrigen Stadt- und Landkreise ein verantwortlicher Arzt als Leiter der SMH. In dieser Funktion war er gleichzeitig Leiter der SMH-Leitstelle und somit allen im jeweiligen SMH-Bereich Tätigen weisungsberechtigt, sogar dem Leiter des DRK-Krankentransports. Zur Objektivierung und besseren Vergleichbarkeit der Leistungen war bereits 1982 eine Anweisung zur landesweiten einheitlichen SMH-Dokumentation erlassen worden [16].

Fachliche Qualifikation Als besonders wichtig für die Wirksamkeit der SMH wurde die fachliche Qualifikation der hier Tätigen angesehen. So erließ das MfGe 1977 eine „Anweisung über die Weiterbildung von Ärzten für den Einsatz in der SMH“ [17] mit verbindlich abzuhandelnden Themenkomplexen und der Auflage, vor dem selbständigen ärztlichen Einsatz eine 3-monatige Hospitation auf dem Gebiet der modernen Reanimation sowie 10 SMH-Dienste unter Anleitung eines in der SMH erfahrenen Arztes nachzuweisen [18]. Der Weiter- und Fortbildung dienten auch Veranstaltungen der 1983 gegründeten „Gesellschaft für Notfallmedizin der DDR“, der 700 Mitglieder verschiedener medizinischer Fachdisziplinen angehörten. Von ihrer „Arbeitsgruppe Rettungsarzt“ wurden interdisziplinär Empfehlungen für ein Curriculum rettungsdiensttätiger Ärzte erarbeitet [19]. Austauschmedium Dem wissenschaftlichen und praktischen Meinungsaustausch diente mit zahlreichen Beiträgen die 1976 gegründete Zeitschrift „Anaesthesiologie und Reanimation“. Auswirkungen Die ab 1976 im SMHSystem organisierte präklinische Notfallbetreuung bewährte sich insbesondere auf dem Gebiet der Dringlichen Medizinischen Hilfe. Ihr Anteil am Gesamtumfang der landesweit erbrachten SMH-Leistungen betrug über die ersten 10 Jahre hinweg gleichbleibend etwa 10 % [20]. Demgegenüber stellte sich bald heraus, dass mit der Einführung des „Dringlichen Hausbesuchsdienstes“ bei unzureichender Abgrenzung zum normalen Hausbesuchsdienst eine ungerechtfertigt große Inanspruchnahme dieses Bereichs der SMH zu verzeichnen war. Laut Scheidler betrug landesweit der Anteil der DHDEinsätze am Gesamtaufkommen aller Hausbesuche über 20 %, örtlich sogar bis

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Das System der „Schnellen Medizinischen Hilfe“ (SMH)

Bildnachweis: Wolfgang Röse

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Umstellung zum föderalen Notfallbetreuungssystem der BRD



Wiedervereinigung Die im Rahmen der deutschen Wiedervereinigung eintretenden mannigfaltigen Veränderungen im Bereich des Gesundheitswesens betrafen auch die präklinische Notfallmedizin. Noch im September 1990 verabschiedete die Volkskammer der DDR ein Rettungsdienstgesetz [22]. Dieses übernahm bewährte Elemente aus dem SMH-System, stellte aber grundsätzlich auf die föderalen Bedingungen der Bundesrepublik um. In der Begründung zu diesem Gesetz hieß es u. a.: „Ausgehend von einer in der DDR bestehenden einheitlichen notfallmedizinischen Organisationsstruktur liegen günstige Voraussetzungen vor, um in den zukünftigen Ländern einen einheitlich strukturierten Rettungsdienst per Gesetz zu schaffen, der in den wesentlichen Grundsätzen mit dem Rettungsdienst der Bundesrepublik kompatibel wäre“ [22]. Neue Regelungen So wurde insbesondere die Verantwortlichkeit der Länder beispielsweise mit zu erstellenden Landesrettungsdienstplänen und zu gründenden Landesrettungsbeiräten hervorgehoben. Die vorgesehene Mitwirkung von Hilfsorganisationen als Leistungserbringer durchbrach das bislang bestehende Monopol des DRK. Gleichzeitig wurden aber auch die bis dahin bestehenden Vorteile logistischer Einheitlichkeit aufgegeben. Die im Oktober 1990 vollzogene Wiedervereinigung beschleunigte die Angleichung an die notfallmedizinischen Rahmenbedingungen der alten Bundesländer. Das führte ganz zweifellos ▶ zu Fortschritten in der materiellen Ausrüstung, ▶ zur Einführung der bislang fehlenden Luftrettung,

▶ zur Optimierung der Kommunikationssysteme und ▶ zur Einführung der Qualifikation „Arzt im Rettungsdienst“. Gleichzeitig gerieten aber auch einige in der Vergangenheit gesammelte positive Erfahrungen (fast) in Vergessenheit, z. B. ▶ beim Qualitätsmanagement, ▶ der Notrufnummer 115 und ▶ der Verknüpfung von Notarzt- und Notfalldienst [23]. Schließlich konnte weder das Fortbestehen der Gesellschaft für Notfallmedizin als „Deutsche Gesellschaft für Rettungsmedizin“ noch deren für 1992 vorgesehene Weiterführung als „Deutsche Gesellschaft für Rettungs- und Katastrophenmedizin“ verwirklicht werden.

Fazit Nach ersten regionalen Initiativen wurde der Rettungsdienst in der DDR seit 1967 zentral organisiert, einheitlich ausgestattet und über die Notrufnummer 115 überall erreichbar. Im System der „Schnellen Medizinischen Hilfe“ (SMH) verband er die Teilbereiche Notfallrettung (DMH) und dringlichen Hausbesuchsdienst (DHD). Ursprünglich für Verletzte vorgesehen, dominierten bald Patienten mit internistischen Krankheitsbildern. Ärztliche Leitung, einheitliche Dokumentation und überregionale Auswertungen waren wichtige Elemente zur Qualitätssicherung. ◀

PD Dr. med. Uwe Ebmeyer ist Leitender Oberarzt und stellvertretender Direktor der Universitätsklinik für Anaesthesiologie und Intensivtherapie der Otto-von-GuerickeUniversität Magdeburg. Er ist Mitglied des Vorstandes, Vorsitzender des Ausschusses für Notfall- und Katastrophenmedizin sowie der Fachkommissionen für Notfallmedizin und Spezielle Anästhesiologische Intensivmedizin der Ärztekammer Sachsen-Anhalt. Von 1991-1994 war er unter Professor Safar als Chief-Fellow am International Resuscitation Research Center in Pittsburgh tätig. E-Mail: [email protected]

Interessenkonflikt Die Autoren erklären, dass keine Interessenkonflikte vorliegen.

Beitrag online zu finden unter http://dx. doi.org/10.1055/s-0033-1361981

Kernaussagen ▶ Rettungsfahrzeuge wurden zuerst in Magdeburg, Greifswald und Jena eingesetzt; dabei wurden außer ursprünglich geplanten Unfallverletzten bereits 40 % Patienten mit Vergiftungen oder akuten Erkrankungen versorgt. ▶ 1967 gab das Ministerium für Gesundheitswesen der DDR (MfGe) die Anweisung Nr. 1 über Dringliche Medizinische Hilfe heraus für die Weiterentwicklung und Planung des Rettungsdienstes. ▶ 1974 formulierte die „Budapester Notfalldefinition“ den Begriff der medizinischen Notfälle konkret und unterteilte diese in Kategorien. ▶ 1976 wurde das Notarztwesen auf Grundlage der Anweisungen Nr. 1 und 2 zum Aufbau der Schnellen Medizinischen Hilfe reorganisiert und bildete damit die Grundlage für eine funktionierende Rettungskette. ▶ 1977 erließ das MfGe eine Anweisung über die Weiterbildung von Ärzten für den Einsatz in der SMH mit verbindlich abzuhandelnden Themenkomplexen und einer Auflage zur Hospitation. ▶ Im Rahmen der Wiedervereinigung wurde das Notarztwesen an die Rahmenbedingungen der alten Bundesländer angepasst, was teilweise zu Verbesserungen führte. Jedoch gerieten leider auch gesammelte positive Erfahrungen in Vergessenheit Prof. Dr. med. Wolfgang Röse war bis zu seiner Emeritierung 2001 Ordinarius und Gründungsdirektor der Klinik für Anaesthesiologie und Intensivtherapie an der heutigen Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg. Er war Vorsitzender der Gesellschaft für Notfallmedizin der DDR und maßgeblich am Aufbau eines arztbesetzten Rettungsdienstes in der DDR beteiligt. Zwischen 1980 und 1996 war er in verschiedenen Funktionen der Weltföderation der Anästhesiegesellschaften tätig. Als Mitglied des erweiterten Präsidiums vertrat er über viele Jahre Sachsen-Anhalt in der DGAI. E-Mail: [email protected] Literatur online Das Literaturverzeichnis zu diesem Beitrag finden Sie im Internet: Abonnenten und Nichtabonnenten können unter „www.thieme-connect.de/ejournals“ die Seite der AINS aufrufen und beim jeweiligen Artikel auf „Zusatzmaterial“ klicken – hier ist die Literatur für alle frei zugänglich.

Ebmeyer U, Röse W. Entwicklung des Notarztwesens in Deutschland – Ostdeutschland. Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2013; 48: 730–733

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zu 50 % [21]. In einer Bestandsaufnahme zur Entwicklung der notfallmedizinischen Betreuung in der DDR konnte Scheidler als langjähriger Leiter des Lehrstuhls für Notfallmedizin an der Akademie für Ärztliche Fortbildung der DDR und Leiter des Forschungsprojekts „Dringliche Medizinische Hilfe und Traumatologie“ 1989 aber auch auf eine inzwischen nahezu landesweite flächendeckende Betreuung für in Not geratene Menschen hinweisen [21].

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[Development of the physician based prehospital emergency medicine system in the former GDR].

The development of the physician based prehospital emergency medicine system of the former GDR started in the early 1960th. Initially the use of ambul...
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