Klin. Wschr. 55, t 191 - 1196 (1977)

K]inische Wochenschrift © by Springer-Verlag 1977

Die Erkennung von Entwicklungsstiirungen in der friihen Schwangerschafl dutch Fruchtwasseruntersuchung* ** K. Kn6rr Department fiir Gyn~ikologie und Geburtshilfe der Universit~it Ulm

Detection of Genetic Defects by Amniocentesis in Early Pregnancy Summary. In the view of the obstetrician the development of prenatal diagnosis of genetic diseases is the consequent continuation of preventive measures for mother and child during prenatal care. In vitro cultivation of fetal cells after amniocentesis in the beginning second trimester enabled the use of those cells for cytogenetic and biochemical analyses. In doing so, chromosomal anomalies, an increasing number of inborn metabolic diseases and open neural tube defects can be detected or excluded in early pregnancy. We are today in a position to encourage carrier families suffering from hereditary defects to have children in cases which have so far been dissuaded from pregnancy. Due to the fact that in approximately 95% of the cases an inborn anomaly can be excluded prenatal diagnosis of congenital defects has got a positive effect on the ongoing pregnancy and over all family planning. Based on our studies of 1000 amniocenteses indications, risks and results are being presented. The diagnostic possibilities of the fetoscopy are being discussed in the light of the first own experiences.

Key words: Amniocentesis - Prenatal Diagnosis Chromosomal anomalies - Hereditary metabolic disorders - Fetoscopy. Zusammenfassung. Die Entwicklung der vorgeburtlichen Diagnostik stellt aus der Sicht des Geburtshel* Vortrag auf der 109. Versammlung der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Arzte, Stuttgart 19.-23. September 1976 ** Mit Untersttitzung der Deutschen Forschungsgemeinschaft im Rahmen des Schwerpunktprogrammes ,,Pr~inatale Diagnose genetisch bedingter Defekte"

fers eine konsequente Fortsetzung der Bestrebungen dar, drohende Gefahren ftir das Kind so frtih wie m6glich zu erkennen. Durch Punktion des Fruchtwassers in der frtihen Schwangerschaft lassen sich kindliche Zellen gewinnen, in vitro kultivieren und zur cytogenetischen und biochemischen Analyse verwenden. Auf diese Weise k6nnen Chromosomenanomalien, eine Reihe erblich bedingter Stoffwechseterkrankungen und offene Spaltbildungen des Neuralrohres zuverl/issig nachgewiesen oder ausgeschlossen werden. Man kann daher heute mit bestimmten erblichen Defekten hochgradig belastete Familien mit Kinderwunsch zu einer Schwangerschaft ermutigen, denen man bisher yon weiteren Gravidit/iten abraten mul3te. Da in ca. 95% der F/ille eine angeborene Anomalie ausgeschlossen werden kann, wirkt sich die vorgeburtliche Diagnostik kongenitater Anomalien positiv auf die Erhaltung der Schwangerschaft und die gesamte Familienplanung aus. An Hand des eigenen Beobachtungsgutes von 1000 Fruchtwasserpunktionen werden die Indikatiohen, Risiken und Ergebnisse erl~tutert. Auf die diagnostischen M6glichkeiten durch die Fetoskopie wird an Hand erster Erfahrungen verwiesen. In der Hand des Erfahrenen stellt der Eingriff der Fruchtwasserpunktion ein risikoarmes und diagnostisch zuverl/issiges Verfahren dar; es ist inzwischen als Routinemethode in bestimmten Zentren etabliert.

Schliisselw/irteri Amniocentese - Angeborene Stoffwechselkrankheiten - Chromosomenanomalien Fetoskopie - Prfinatale Diagnostik.

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K. KnSrr: Erkennung von Entwicklungsst6rungen in der frfihen Schwangerschafl

Einleitung Seit einigen Jahren stehen diagnostische Verfahren zur Verffigung, die es erm6glichen, bestimmte angeborene Anomalien der Frucht bereits in derfriihen Graviditfit zu erkennen. Die Fortschritte in diesem Bereich der Pr/iventivmedizin haben sich als Folge naturwissenschaftlicher Erkenntnisse, insbesondere der Genetik und Zytogenetik, ergeben. Genannt sei in diesem Zusammenhang die Darstellung des menschlichen Karyotypus im Jahre 1956 [23] und die Aufdeckung yon Chromosomenaberrationen als Ursache an~eborener Anomalien in rascher Folge ab dem Jahre 1959, als nachgewiesen werden konnte, dab der Mongolismus auf eine Trisomie des Chromosoms Nr. 21 zurfickzuffihren ist [16]. Parallel vollzog sich die Aufdeckung einer Vielzahl angeborener Enzymdefekte - der ,,Inborn Errors of Metabolism" - mit der rapiden Entwicklung geeigneter Testverfahren [22]. Eine Schrittmacherfunktion kam dabei den neuen Techniken der Gewebe- und Zellkultivierung zu [14]. Die Diagnose kongenitaler Defekte wird in der fiberwiegenden Mehrzahl aus den Zellen des betroffenen Individuums gestellt. Die vorgeburtliche Diagnose hat daher die Gewinnung yon fetalen Zellen zur Voraussetzung. Da kindliche Zellen in das Fruchtwasser abgeschilfert werden, k6nnen sie mittels der Fruchtwasserpunktion - d e r Amniocentese - und fiber die Kultivierung in vitro zur Diagnostik herangezogen werden.

Der Zeitpunkt der Amniocentese in der Friihgravidit~it Die Amniocentese j~r die Zwecke der prdnatalen Diagnose angeborener Fehlbildungen sollte sowohl im Hinblick auf die Konsequenzen als auch in Anbetracht der psychischen Belastung der Schwangeren zu einem m6glichst frfihen Termin erfolgen. Die Wahl des Zeitpunktes mug jedoch den entwicktungsphysiologischen Bedingungen der Frucht Rechnung tragen und aus operationstechnischen Grtinden in AbNingigkeit von der Gr6ge des Uterus erfolgen. Fetale Zellen getangen auger vonder Amnionhfille und der Haut etwa ab der 14. Schwangerschaftswoche auch aus dem Nasen-Rachenraum und dem Harnwegssystem in das Fruchtwasser und sind dort in ausreichender Zahl ab der 15.- 16: Schwangerschaftswoche suspendiert [4, 17]. Etwa 20% von ihnen sind noch vital und vermehrungsf'fihig. Damit besteht die Chance, sie in vitro zu kultivieren und zum Nachweis oder Ausschlug einer Anomalie zu benutzen [14]. Zum gleichen Zeitpunkt sind im Mittel 170-180 ml Amnionflfissigkeit vorhanden [1, 4, 5].

Die zur Diagnostik ben6tigten 10-15 ml Fruchtwasser werden schnell ersetzt, der Entzug wird schadlos toleriert. Um diese Zeit hat auch der Uterus eine Gr6ge erreicht, die die Durchffihrung der Amniocentese auf transabdominalem Wege erlaubt. Die genannten Parameter: Fruchtwassermenge, Zellgehalt und GrSge des Uterus lassen somit die 15.- 16. Schwangerschaftswoche ffir die vorgeburtliche Diagnostik kongenitaler Anomalien als den frfihest geeigneten Zeitpunkt erscheinen.

Die Technik der Amniocentese in der Friihschwangerschaft Als wichtigste Forderung gilt, Verletzungen des Feten und der Plazenta zu vermeiden. Zur Ermittlung der optimalen Punktionsstetle und zur Durchffihrung der Amniocentese leistet das Ultraschallverfahren entscheidende Hilfe [19]. f0ber der im Ultraschallbild festgestellten optimalen Punktionsstelle wird nach Desinfektion (und fakultativ Lokalanaesthesie) mit einer Spezialkanfile eingegangen [8]. Das Eindringen der Nadel in die Amnionh6hle kann unter dem entsprechend aufgesetzten Ultraschallkopf verfolgt werden (Abb. 1 und 2). Im eigenen Beobachtungsgut konnte durch die Sichtpunktion das Risiko einer durch den Eingriff induzierten Fehtgeburt von 1,6% auf 0,4% gesenkt werden [9-13]. Das Risiko ffir die Frucht ist demnach - gemessen an dem genetischen Risiko der einzelnen Indikationsgruppen (s. S. 4) - gering. Nach den eigenen Verlaufsstudien ist in f.)bereinstimmung mit den Angaben in der Literatur keine Beeintr~ichtigung des Schwangerschaftsverlaufes und der sp/iteren Entwicklung der Kinder zu verzeichnen [12, 13]. Nach den fibereinstimmenden, bisherigen Erfah-

Abb. 1. Uber der im Ultraschallbild als gfinstig ermittelten Punktionsstelte wird nach Desinfektion (und fakultativ Lokatanaesthesie) mit der Ultraschallsichtkanfile eingegangen. Das Eindringen der Nadel in die Amnionh6hle kann unter dem entsprechend aufgesetzten UItraschallkopf verfolgt werden

K. Kn6rr: Erkennung yon Entwicklungsst6rungen in der friihen Schwangerschaft

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lndikationen zur Fruehtwasseruntersuchung in der friihen Sehwangerschaft

Abb. 2. Die Ultraschallsichtkantile (~ links im Bild) ist in der Amnionh6hle deutlich sichtbar. Sie kann kontrolliert so geleitet werden, dab fetale Teile ( ~ Kopf des Fetus in Bildmitte) nicht tangiert werden

rungen bestehen h6chst selten Gefahren ffir die Mutter [9-13, 15, 17].

Die Kultivierung der fetalen Zellen t'dr die pr/inatale Diagnostik So zuvert/issig wie die Fruchtwasserpunktion mui3 auch die Zellkultivierung gelingen. Es ist zu bedenken, dab jeder Zfichtungsversager eine Wiederholung der Amniocentese nach sich zieht - eine ffir die Schwangere auBerordentlich groBe psychische Belastung. Mit Engagement und zunehmender Erfahrung kann die Versagerquote auf ein Minimum von unter 1% gesenkt werden 1. Ftir die Zfichtung der Amnionzellen werden bis zur Erstellung der cytogenetischen Diagnose im Mittel 14 Tage ben6tigt. Ffir die biochemische Diagnostik sind - je nach Test - 3 - 6 Wochen zu veranschlagen [141. Ergebnisse der Abteilung Klinische Genetik der Universitiit Ulna (Komm. Leiterin: Prof. Dr. H. Kn6rr-Giirtner)

Die Indikation zur vorgeburtlichen Diagnostik richtet sich nach dem genetischen Risiko, das im Zuge der genetischen Beratung ffir jeden Einzelfall ermittelt wird. Bei folgenden Risikogruppen ist der Nachweis oder Ausschlug eines genetisch bedingten Defektes mit Hilfe einer Fruchtwasserpunktion in der frfihen Schwangerschaft angezeigt: 1:. Chromosomentranslokationen: Diese erblichen Chromosomenumbauten werden nach den Mendelschen Gesetzen fiber Generationen hinweg weitergegeben. Dabei ist ein Elternteil Tr~iger einer solchen Chromosomenaberration in der sogenannten balancierten Form, er besitzt also als Translokationsheterozygoter die Strukturanomalie bei normalem ~iul3eren Erscheinungsbitd. Das Risiko ftir die Weitergabe des Translokationschromosoms an die nachfolgende Generation ist stets hoch, zahlenmfii3ig jedoch von verschiedenen zus~itzlichen Faktoren abh~ingig. Grunds~itzlich sind vier M6glichkeiten der Weitergabe in Betracht zu ziehen; Erstens kann das Kind zytogenetisch und ph/inotypisch normal, zweitens zytogenetisch und phfinotypisch abnorm - also miBbildet sein, oder es kann drittens die Strukturanomalie wie der fibertragende Elternteil in balanciertem Znstand besitzen; es wird dann gul3erlich normal, aber ebenfalls f2bertr~iger der Chromosomenanomalie sein. Bei etwa einem weiteren Viertel der Fglle kommt es auf Grund der abnormen Chromosomenkonstitution zu frfihen Keimverlusten, die unbemerkt ablaufen oder als Fehlgeburt klinisch manifest werden. In Anbetracht dieser hohen genetischen Betastung ist die Indikation zur praenatalen Diagnostik also zwingend, wenn die Sch.wangere selbst oder ihr Ehepartner nachgewiesener Ubertriiger einer vererbbaren Chromosomentranslokation ist (Tabetle 1). 2. Nach der Gebmt eines Kindes mit einer nicht vererbbaren Chromosomenanomalie ist das Wiederholungsrisiko um etwa das Doppelte gegenfiber der Vergleichspopulation erh6ht. Frauen, die bereits ein Kind mit einer solchen Chromosomenanomalie geboren haben, z.B. ein Kind mit einem ,,einfachen" TrisomieMongolismus, verlangen daher alas verst/indlichen Grfinden heute die vorgeburtliche Diagnostik. Nicht wenige von ihnen wagen erst dann eine neue Schwangerschaft, wenn ihnen die Fruchtwasseruntersuchung in der friihen Gravidit/it zugesichert werden kann (Tabelle 1). 3. Das Risiko, ein Kind mit Mongolismus (DownSyndrom) oder einer anderen Trisomie zur Welt zu bringen, nimmt mit zunehmendem Alter der Mutter eindeutig zu. Die H~iufigkeit der Geburt eines mongoloiden Kindes wird in der Gesamtbev61kerung mit

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K. KnSrr: Erkennung von Entwicklungsst6rungen in tier frtihen Schwangerschaft

Tabelle 1. Ergebnisse von 1000 diagnostischen Amniocentesen Indikationsgruppen

Gesamtzahl

Normal

Abnorm bal. Translokation

Ein (oder beide) Elternteil(e) Tr/iger einer Chromosomentranslokation

18

Biochemische Defekte

21

Geschlechtsgebundene Erbkrankheiten

15

8

15 (14) 7a

Mfitterliches Alter, 3 5 - 39 Jahre

338

332 (329)

Miitterliches Alter, 40 Jahre und dartiber

245

235

Vorausgegangene Geburt eines Kindes mit Down-Syndrom

173

Vorausgegangene Geburt (Abort) mit anderen nicht vererbbaren Chromosomenanomalien

35

Down-Syndrom in der weiteren Familie

34

Vorausgegangene Geburt eines Kindes mit neuralen Spaltbildungen

38 4

4

Neurale Spaltbildung in der weiteren Familie Varia

a

79

Anomalierate in %

Interruptio

5

28 (56)

6

6 (+einmal f~tlsch neg.)

28,5 (33,3)

6

8 (~)

53,3

abnormer Befund i.e.S.

8

1,8 (2,7)

6

10

4,1

9 (1 x verweigert)

171

2

1,2

2

35

--

0

34

--

0

--

37

1

2,6

1

--

0

--

-

0 (t,3)

1 x Desid. interrupt.

79 (78)

6 3 (2 x de novo 1 x patern)

1 x de novo Inversion X

--

Darunter 1 Knabe, bei dem ein Menkes-Syndrom biochemisch aus den kultivierten Amnionzellen ausgeschlossen werden konnte

1:600 Geburten veranschlagt (=0,16%). Dieses Risiko steigt nach statistischen Untersuchungen bei 3 5 - 39j~hrigen auf ca. 0,5% und ab dem 40. Lebensjahr auf ca. 2%. Bezieht man auch andere chromosomale, ebenfalls altersabh/ingige Trisomien (E-Trisomie-Edwards-Syndrom, D-Trisomie-Patau-Syndrom, XXY-Konstellation-Klinefelter-Syndrom, XXXKonstellation-Superfemale) mit ein, so sind die Anomalieraten noch h6her zu veranschlagen. Sie betragen fiir das pr/inataldiagnostische Klientel der Ulmer Gruppe bei den 35-39jfihrigen Frauen knapp 2% und bei den Schwangeren ab dem 40. Lebensjahr fund 4% (Tabelle 1). Erh6htes Geb/iralter, sp/itestens ab dem 38., besser ab dem 35. Lebensjahr, ist demnach eine der wichtigsten Indikationen zur pr/inatalen Diagnostik. 4. Bei Obertr/igerinnen eines gesehlechtsgebundenen Erbleidens wird dureh die pr/inatale Diagnostik das Geschlecht des Feten festgestellt. Weibliche Individuen k6nnen den Gendefekt von Generation zu Generation iibertragen, ohne selbst zu erkranken. Hingegen besteht fiir m/innliche Nachkommen ein Risiko von 50% einer Manifestation des Leidens, z.B. der Bluterkrankheit. Es ist also zu bedenken, dal3 der spezifische Ausschlul3 oder Nachweis der in Frage

stehenden Erkrankung bei den m/innlichen Feten bisher nicht m6glich ist, eine Tatsache, die bei der Beratung der Ehepaare berticksichtigt werden mug. Aber auch hier sind die Dinge im Flul3. Ein eindrucksvolles Beispiel ist das Menkes-Syndrom. Seit kurzem kann man den Defekt bei m/innlichen Feten in der Arnnionzellkultur .nachweisen oder ausschlieBen [6] (Tabelle 1). 5. Eine weitere Risikogruppe ufnfagt Familien, in denen ein Kind mit einer autosomal-rezessiv vererbbaren Stoffwechselkrankheit geboren wurde. Aus der Gruppe von ca. 200 angeborenen metabolischen Defekten k6nnen heute bereits ann/ihernd 50 prfinatat nachgewiesen oder ausgeschlossen werden. Jedes einzelne dieser Leiden ist zwar selten; :insgesamt bilden sie jedoch eine umfangreiche Ursachengruppe geistig und k6rperlich schwerst behinderter Kinder (Tabelle 1). 6. Offene Spaltbildungen des Gehirns und des Riikkenmarks sind seit kurzem durch die Bestimmung der Alpha-Fetoproteine (AFP) im Fruchtwasser der vorgeburtlichen Diagnostik zug/inglich geworden [3, 5, 20]. Diese multifaktorielt bedingten Entwicklungsst6rungen bergen ein erh6htes Wiederholungsrisiko (ca. 5%). Deshalb ist die prS.natale Diagnostik indiziert,

K. Kn6rr: Erkennung yon Entwicklungsst6rungen in der frfihen Schwangerschaft

wenn bereits ein Kind (oder Kinder) mit Spaltbildungen in der eigenen Familie oder in der unmittelbaren Verwandtschaft geboren wurde(n). Unabhfngig von der speziellen Indikation wird die AFP-Bestimmung heute routinemfBig bei jeder diagnostischen Amniocentese vorgenommen; ebenso wird bei gegebener Indikation zur Ermittlung der AFP-Werte stets auch die Chromosomendiagnostik durchgef~hrt. Besonders die Indikationsgruppen mit genetischer Belastung durch Chromosomentranslokationen und angeborene Stoffwechselleiden stellen eindrucksvolle Beispiele fur den Wandel dar, der sich mit der prfnatalen Diagnostik vollzogen hat. Familien mit vererbbaren Chromosomenfehlern oder Enzymopathien muBte man auf Grund der empirischen Risikoziffern bisher von Schwangerschaften abraten und gegebenenfalls die Sterilisation eines Ehepartners zur Verhfitung weiteren Unglficks empfehlen. Seit die M6glichkeit der vorgeburtlichen Diagnostik besteht, k6nnen auch diese Ehepaare zur Schwangerschaft und zur Erfiillung ihres Kinderwunsches ermutigt werden. Die vorgeburtliche Diagnostik erlaubt im Gegensatz zu den bisher allein gfiltigen statistischen und empirischen Risikoziffern der genetischen Belastung eine prfzise individuelle, alternative Aussage darfiber, ob ein gesundes oder ein abnormes Kind zu erwarten ist.

Ergebnisse von 1000 eigenen diagnostischen Amniocentesen In Tabelle 1 sind die Indikationsgruppen ffir die vorgeburtliche Diagnostik und die Ergebnisse der ersten 1000 eigenen Amniocentesen dargestellt. Sie bestfitigen das hohe Risiko der Gruppen mit erblichenChromosomentranslokationen, famitifren Stoffwechselleiden,geschlechtsgebundenenErbkrankheiten und der Frauen im erh6hten Gebfiralter, insbesondere ab dem 40. Lebensjahr. In der Gruppe der ,,Varia" sind vor allem die Frauen enthalten, bei denen die prfnatale Diagnostik auf Grund psychischer Belastungen durchgef~hrt wurde. Es sind in der Mehrzahl Kinderfrztinnen, Kinderschwestern, HeilpS.dagoginnen, Sozialftirsorgerinnen, Lehrerinnen an Sonderschulen usw., also Angeh6rige yon Berufsgruppen, die oft oder stfndig mit miBbildeten bzw. behinderten Tabelle 2. Ergebnisse von 1000 diagnostischen Amniocentesen

Gesamtzahl der diagnostischen Amniocentesen : 1000 davo?t

abnorm:

38=

}

bal. ~bertrfiger:

9=

0,9%

falsch negativer biochemischer Befund:

1=

0,1%

1195

Kindern konfrontiert werden und aus der Angst vor der Geburt eines solchen geschfdigten Kindes um die Amniocentese ersuchen. Bei rund 4% der Beobachtungen wurde eine abnorme Frucht diagnostiziert (Tabelle2) und ein Schwangerschaftsabbruch aus genetischer Indikation durchgefiihrt (Tabelle 1). Bei Nachweis yon balancierten Translokationen (0,9%) kann die Schwangerschaft belassen werden bzw. ist die Interruptio nicht indiziert (s. S. 1196).

Die Fetoskopie Entzogen hat sich bisher der vorgeburtlichen Diagnostik - abgesehen von den offenen neuralen Spaltbildungen - die relativ umfangreiche Gruppe der multifaktoriell verursachten, vielfach mit multiplen, fluBerlich sichtbaren Abnormitfiten einhergehenden MiBbildungen. Ihre prfnatale Erkennung erscheint dringlich, da auch diese Defekte famili~ir geh~iuft vorkommen k6nnen und da ein erh6htes Wiederholungsrisiko nach der Geburt eines solchen Kindes besteht. Zu ihrem Nachweis in der frfihen Schwangerschaft bietet sich als neues Verfahren die Fetoskopie an [2, 10, 18]. Sie gestattet auch die Punktion plazentarer GeffBe, um bei Verdacht auf eine Hfmoglobinopathie diagnostische Aufschlfisse zu gewinnen [7]. Die ersten Resultate mit den neueren Ger/iten und unter Anwendung des Ultraschallsichtverfahrens sind ermutigend [10, 18]. Das eigene Beobachtungsgut umfaBt 31 Fetoskopien, die anlfiBlich genehmigter Schwangerschaftsabbriiche mit ausdrficklichem Einverstfndnis der Frauen durchgef~hrt wurden. Siebenmal fand das Verfahren aus rein diagnostischen Grtinden Anwendung; dabei tiet3 sich einmal eine Anomalie des Gesichtsschfidels nachweisen. Aus entwicklungsphysiologischer Sicht und nach den bisher gesammelten Erfahrungen scheint ffir die Durchffihrung der Fetoskopie der Zeitraum zwischen der 17.- 19. Schwangerschaftswoche am besten geeignet. Die Methode kann bei strengster Indikationsstellung in das Repertoire der prfnatalen Diagnostik eingebaut werden.

Stellung und Wert der vorgeburtlichen Diagnostik Der Tatsache, dab =- fibereinstimmend mit den Ergebnissen anderer Arbeitsgruppen - bei ca. 95% der untersuchten Schwangeren eine Anomalie des Feten pr/inatal ausgeschlossen werden konnte, kommt ein besonderes Gewicht zu, bedeutet doch der prfnatale Ausschlul3 einer Mil3bildung angesichts der genetischen Belastung die Befreiung von Angst und Sorge um das Ungeborene. Die vorgeburtliche Diagnostik wirkt sich auf diese Weise eindeutig positiv auf die

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K, Kn6rr: Erkennung von Entwicktungsst6rungen in der friihen Schwangerschafl

Erhaltung der Gravidit/it und die gesamte Familienplanung aus. Dies gilt besonders for Schwangere in fortgeschrittenem Alter und fiir Familien mit vererbbaren Chromosomenanomalien und Stoffwechselerkrankungen. Nicht selten sind die Frauen, die sich heute bei gegebenem Risiko ausschlieBlieh im Vertrauen auf die pr/inatale Diagnostik zu einer erneuten Schwangerschaft entschtiegen und diejenigen, die auf die M6glichkeiten der vorgeburtlichen Erkennung genetisch bedingter Defekte aufmerksam gemacht von der beabsichtigten Schwangerschaftsunterbrechung Abstand nehmen. Diese Einstellung geht auch aus einer Umfrage hervor, die an die ersten 305 Frauen des eigenen Kollektives gerichtet wurden. Nahezu alle - insgesamt 95,6% - sprachen sich ,,unbedingt", (91,3%) bzw. ,,unter Umstfinden" d.h. je nach Risiko (4,3%) ftir die vorgeburtliche Diagnostik im Falle einer erneuten Schwangerschaft aus. Bei den restlichen war der Kinderwunsch erf/illt. Nut eine Patientin lehnte eine nochmalige Amniocentese als Katholikin aus Gewissensgrtinden ab [21]. Die sich bei Feststellung einer Anomalie des Feten ergebenden Konsequenzen stellen den Arzt vor eine neue Situation. Fiir ihn galt und gilt die Devise, eine exakte Diagnose zu stellen, um eine gezielte Therapie vornehmen zu k6nnen. Bei der vorgeburtlichen Erkennung angeborener Anomalien vermag er ffir eine ganze Skala von ihnen zwar eine eindeutige Diagnose zu stellen, ohne jedoch therapeutische M6glichkeiten zur Verffigung zu haben. Als Konsequenz bleibt einzig und allein der Schwangerschaftsabbruch. Der Gesetzgeber hat bei der Neufassung des § 218 dieser Situation durch die Anerkennung der genetischen Indikation zur Schwangerschaftsunterbrechung Rechnung getragen. Die juristisehe K1/irung und Rechtfertigung kann jedoch nicht dartiber hinwegtfiuschen, dab viele Fragen religi6ser und ethischer Natur often bleiben. Es ist nicht ang/ingig, diese Problematik unter dem Aspekt der Gesellschaft oder der sozialen Belastungen anzugehen. Vielmehr bedarf es bier unausweichlich der individuellen, freien Entscheidung der Ehepartner und auch des ausiibenden Arztes und seiner Mitarbeiter. Auf die Respektierung dieser individuellen Entscheidungsfreiheit mug auch die genetische Beratung yon vornherein ausgeriehtet sein. So gesehen - also unter voller Wtirdigung der pers6nlichen Freiheit - erscheint das Vordringen in den Lebensraum des Ungeborenen gerechtfertigt.

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Prof.. Dr. K. Kn6rr Department f/it Gyn/ikotogie und Geburtshilfe der Universitht Prittwitzstrage 43 D-7900 UIm (Donau) Bundesrepublik Deutschland

[Detection of genetic defects by amniocentesis in early pregnancy (author's transl)].

Klin. Wschr. 55, t 191 - 1196 (1977) K]inische Wochenschrift © by Springer-Verlag 1977 Die Erkennung von Entwicklungsstiirungen in der friihen Schwa...
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