Editorial Aktuelle Konzepte zum "Adult Respiratory Distress Syndrome" T. Hachenbefg. P. Lawin

Wenige intensivmedizinische Krankheitsbilder haben in gleichem Umfang klinische wie experimentelle Studien und Behandlungskonzepte hervorgemfen wie das "Adult respiratory distress syndromen (ARDS). Die Kontre Versen um Möglichkeiten der fnihzeitigen Diagnostik, p r e phylaktische MalZnahmen, geeignete Beatmungsmethoden und chirurgische, pharmakologische oder apparative Therapieansäae zur Elimination der auslösenden Noxen dauern unverändert an. Selbst die Inzidenz des ARDS wird uneinheitlich beurteilt: eine Studie des National Heart and Lung Institute (Respiratory diseases) fand eine Inzidenz von 75 Fällen pro 100000 Einwohner pro Jahr (I), während Vilkzr und Slutsky in einer prospektiven dreijahrigen Untersuchung über lediglich 1,5 bis 3,5 Fälle pro 100000 Einwohner pro Jahr berichteten (2). Letztere Zahlen werden durch eine retrospektive Studie aus Großbritannien unterstützt, welche eine Inzidenz von 4,5 Fällen pro 100000 Einwohner pro Jahr ergab (3). Es ist in der Winischen Praxis üblich, Krankheitsbilder zu definieren, welche mit einem erhöhten ARDSRisiko einhergehen. Auch hier schwanken die Zahlen erheblich: Baumann und Mitarb. fanden eine Inzidenz von 1,85 O/o (4). Demgegenüber berichteten Pepe und Mitarb. über 46 ARDS-Fälle bei 136 Risikopanenten (33,g0/o) (5). Bemerkenswert ist ferner die Tatsache, da6 alle epidemiologischen Untersuchungen multiple Pathologien in ihr jeweiliges Kollektiv mit einbeziehen (1-6). Dies macht konkrete Angaben über die Inzidenz des ARDS bei einem bestimmten Syndrom oder Krankheitsbild ausgesprochen schwierig. Auf der Grundlage umfangreicher experimenteller Untersuchungen lassen sich die pathophysiologischen Mechanismen des ARDS innerhalb bestimmter Rahmenbedingungen nachvollziehen. Das interstitielle und intraalveoläre Ödem basiert auf einer pathologischen Steigerung der Kapillarpermeabilität, wobei beim ARDS zeitlich und morphologisch unterschiedliche Phasen dokumentiert wurden (7).- Der Endothelschaden der Lungenstrombahn entsteht durch die Einwirkung von Mediatoren: den Alveolarmakrophagen und Cytokinen kommt dabei offensichtlich eine Schlüsselrolle zu. Proteasen, Elastasen, Sauerstoffradikale, endogene oder exogene Toxine und die Aktiviemng der klassischen Kaskadensysteme (Komplementsystem und Hageman-Faktor, Koagulations-Fibrinolyse-System, Kallikrein- Kinin-System)können weiterhin die alveolokapilläre Membran schädigen (8). Die Diagnostik dieser pathe

Anästhesiol. Intensivrned. Notfallmed. Schmerzther. 27 (1992) 257-258 O Georg Thieme Verlag Stungart . New York

physiologischen Abläufe ist augerordentlich schwierig, so daß gegenwärtig keine klinische Möglichkeit zur frühzeiten Erfassung eines ARDS besteht. Der Kapillarschaden kann zwar nuklearmedizinisch bestimmt werden (z. B. über die pulmonale 99mTc-Clearance),was - abgesehen vom großen technischen Aufwand - allerdings nur wenig konkrete Aussagen zulaßt: nach kardiochirurgischen Operationen mit Einsatz der extrakorporalen Zirkulation tritt regelmaßig eine Zunahme der pulmonalen 99mTc-Clearanceauf, ohne daß die Patienten ein ARDS entwickeln (9). Ebenso hat sich die Bestimmung des extravaskulären Lungenwassers (EVLW) nicht bewahrt. Eine leichte Zunahme des EVLW wird nicht zuverlässig erfaßt und darüber hinaus besteht keine Korrelation zwischen dem AusmaR der Oxygenierungsstörung und dem Lungenödem (10). Das Dilemma rierexperimenteller Studien gilt beim ARDS in besonderem M d e ; Analogieschlüsse zur klinischen Praxis dürfen nur mit der gebotenen Vorsicht gezogen werden. Derzeit existiert kein Tiermodell, welches die Entstehung des humanen ARDS (beispielsweise nach einem Polytrauma) schlüssig nachvollziehen kann. Dementsprechend sind Interventionen, welche in vitro oder teilweise in vivo erfolgreich bestimmte Kaskadensysteme unterbrechen oder Endotoxine oder Sauerstoffradikale inaktivieren konnten, in der klinischen Praxis keinesfalls etabliert. Die Bilanz in der Behandlung des ARDS ist 25 Jahre nach der genaueren Beschreibung des Syndroms durch Asb baugh und Mitarb. enttäuschend: je nach dem zugmndeliegenden Patientenkollektiv beträgt die Mortalität zwischen 35 und 75 O/o (11,12). Definitive Therapieempfehlungen gehen nicht über allgemeine Maßnahmen hinaus (z. B. Senkung des pulmonalkapillären Druckes zur Verminderung der Ödembildung im Interstitium und Alveolarbereich). Spezielle Interventionen (z. B. Glukosteroide zur Behandlung des kapiliären Endothelschadens, Heparin, nichtsteroidaie antiinflammatorische Substanzen) wurden wieder verlassen, da keine signifikante Reduktion der Mortalität nachzuweisen war. Dennoch stellt die therapierefraktäre Hypoxie nur in 16% der Fälle die Todesursache dar. Die Mehrzahl der Patienten kommt nicht an einem ARDS, sondern mit einem ARDS ad exitum (13). Zweifellos hat die maschinelle Beatmung bei akuter respiratorischer Insuffizienz unterschiedlicher Genese die Prognose deutlich verbessert. Gerade beim ARDS 1 s t sich dieser Effekt iedoch nicht nachweisen. Die respiratorische Therapie wird irn ailgemeinen erst dann eingeleitet, wenn die Funktionsreserve der Lunge erschöpft ist und eine Störung des Gasaustauschs

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Klinik und Poliklinik hAnästhesiologie und Operative Intensivmc&zin, Wesrfälischc Wilhelms-Universität. Münster

T. Hachenberg, P. Luwin: Konzepte zum ARDS

faßbar wird. Sie greift damit sicherlich nicht in die pathe Literatur physiologischen Mechanismen des ARDS ein, welche sich bereits etabliert haben. Ob daher der Spontanatmung oder 1 National Heart and Lirng Institute. Respiratory disease. Task forcc rcport on problcms. rcscarch approaches. needs. Washington DC, Beatmung mit positiv endexspiratorischem Druck (PEEP) US Gwcmment printing office. 1972; pp. 167- 180. DHEW ~ u b l i eine prophylaktische Wirkung zugesprochen werden kann, catiOn 74-432 ist umsmtten (14). Von der Beatmung mit PEEP darf auch 2 Villar, J., A. S. Slutsky: The incidence of the adult rcspiratory diskeine Vemindening des Lungenödems ewmet werden ness wdrome. Am. Rn. Rcspir Dis. 140 ( 1989) 8 14- 8 16 (I5) und neuere Untersuchungen weisen 3 Webster, N. R,A. T. Cohen. 1. F. Nunn: Adult respiratory distress darauf hin, daß Hubvolumina von 12-15 mL- kg- in Verspdromc - how many cascs in thc "K? Anacsthcsia 43 ( 1988) 9 U bindung mit hohen Atemwegsspitzendrücken zu erhebli-926 chen Lungenschäden führen können (16). Es mutet fast wie Baumann. W. R et.clI: lncidcnce m d rnondity of adult rcspiratory distrcss syndromc: A prospcctivc analysis from a largc rnctrapolitw eine bittere Ironie an, daß nach einer Ära vielfältiger Beathospital- Cnt. Gare 14 ( 1986) 1-4 mungsmethoden nun die Mortalität des ARDS dadurch gesenkt werden kann, d a man vor allem die ~ ~ ~ ~der ~ 5~Pepe,~ P. E..i Rv T. Potkin, i ~ D.äH. Rrus, ~ L D. Hudson, C. J. Cclnico: Clinical prcdictors of thc adult rcspiratory distrcss syndrornc. Am. Beatmung vermindert und eine höhere arterielle CO2-SpanJ. Surg. 144 (1982) 124- 128 nung in Kauf nimmt: niL ( 17)! Die Beat6 Focukr, A. A., R F. Harnman, G. 0. Zerbe, K , N. Benson, T, M. mung mit permissiver H ~ ~ e r k a ~ n i edamit in KonkurHyers: Adult respiratory disacss syndromc. Am. Rev. Respir. Dis. renz zu den Verfahren, welche unter weitgehender Ruhig132 (198s)472-478 Stellung der Lunge über extrakorporale CO2-Eliminierung 7 Rinaldo, 1. E,R M. Rogen: Adult respiratory dismess syndrorne. Changing concepts of lung in~uryand repair. N. Engl. J. ~ e d 306 . und/oder Oxygeniemng (ECC02R, ECMO) einen adäqua(19g2) ten Gasaustausch erzielen. Eine Hyperkapnie (PaC02 59 8 NeuhOfi H.: Actions and interactions of rnediator Systems and rnc5 19 m m ~ g ) respirato,.jscher ~ i ( p d~ a 7.u ~ ~ ~ diators in thc pathogcncsis of ARDS and multiorgan failure. Acta f 0.11, welche bei einer Senkung des AtemwegspitzendrucAnacsthesiol. Stand. 35 ( 1991)7- 14 kes unter 30 bei einem 'On mL 9 Iones, J. G., B. d. Mine, D. Royston: The physiology of lcaky lung. - kg- auftrat (17), kann hingegen kaum bei Patienten mit 8, J. ~ ~54 (1982) ~ 705-721 ~ ~ ~ h . Schädelhimaauma und erhöhtem Himdruck akzeptiert 10 Brigham, K. I,, K. Kariman, T. R Harns.]. R Snappet: Correiation of oxygenation with vascular permcability - surface arca bur not werden. Auf der anderen Seite berichteten Sucbyta und with lung water in humans with acute respiratory failure and pulmoMita&. über eine deutlich bessere Überlebensrate von n q ederna. J. Clin. Invct. 36 ( 1982) 339-349 ARDS-Patienten, welche die ECMO-Kriterien erfüllten, hinAhbaugh, D. G., D. B. Bigelow, T. L. PetS, Levine: Amte rcspiragegen in einer randomisienen snidie konvennonell weitertory distress in adults. Lancct 2 (1967) 3 19-323 behandelt wurden' bestanden keine signifikanten UnterArtigas, A.: Adult rcspiratory distrcss Syndrome: Changing concepts schiede im zur der ECMo-Gru~ of clinical cvolution and recovery. In: Vincent, J. L. (Hng.): Update Pe (18). In jedem Fall dürfen daher historische Vergleichsin intensive care and ernergcncy medicine. Vol. 5 Update 1988, pp. daten nur mit großem Vorbehalt hinzugezogen werden, um 97- 104, Springer Verlag, Berlin den Stellenwert des jeweiligen Therapiekonzepts richtig ein- '3 Montgomery, A. B., M. A. Shger, C. J. Camco, L D. Hudson: Causes of rnonaliry in patients with adult respiratory disrrcss synzu können. Es kann kein Zweifel bestehen, daß die 267-284 drome. Am. Rev. Respir-Dis. beste Therapie des ARDS immer noch in der konsequenten P. E.. L. D. Hudson, C. I. Carrico: Early applicarion of posiBehandlung deienigen ~ ~ ~ ~ k h ~besteht, , ~ ~ welche b i l d l4~ Pepe. ~ tive end-expiratory pressurc in patients at risk for the adult respirazur akuten respiratorischen Insuffizienz prädisponieren. tory disaess syndrorne. N. Engl. J. Med. 3 1 1 (1984) 28 1-286 1s Malo, J.. J. Ali. L. D. H. Wood: How does positive end-expiratory

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pressure reduce inrrapulmonary shunt in canine pulmonary ederna? J. Appl. Physiol. 57 (1984) 1002- 1010 16 Dreyfuss, D., P. Soler, G. Basset, G. Sauman: High inflation presSure pulmonary ederna. Rcspective effects of high airway pressure, high tidal volurne and positive end-expiratory pressure. Am. Rev. Respir. Dis. 137 (1988) 1159- 1164 17 Hickling, K G., S.I. Henderson, R lackson: Low mortality associated with low volurne pressure limited venrilation with permissive hypercapnia in severe adult respiratory distress syndrome. lntensive Care Med. 16 (1990) 372-377 18 Sucbyta, M. R. T. P. Chmmer, J. F. Orne, A. H. Morris, C. G. Efiiott: Increased survival of ARDS parients with severe hypoxemia (ECMO criteria). Chest 99 (1991) 951-955

Priv.-Doz DY.med. T. Hachenberg Prof. DY.med. Dr. med. h. C. P. Lawin, FCCM Klinik und Poliklinik für Anästhesiologie und operative intensivrnedizin Westfälische Wilhelrns-Universität Albert-Schweiaer-Sm,33 4400 Münster

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258 Anästbesiol. Intensivmed. NoqaUmed. Schmerzther. 2 7 ( 1 992)

[Current concepts on the adult respiratory distress syndrome].

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