Nr. 15, 9. April 1976, 101. Jg.

Arns, 1-lüter: Konservative Behandlung des lumbalen Bandscheibenschadens

Aktuelle Therapie

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Redaktion: Prof. Dr. H. Hornbostel, Hamburg Prof. Dr. W. Kaufmann, Köln Prof. Dr. W. Siegenthaler, Zürich

Dtsch. med. Wschr. 101 (1976), 587-588

© Georg Thieme Verlag, Stuttgart

Innerhalb der letzten drei Jahrzehnte hat sich die Erkenntnis zunehmend gefestigt - und sie kann heute nicht mehr ernsthaft bestritten werden -, daß es sich bei dem in früheren Jahren als »Ischias« oder »Ischiasneuritis«

bezeichneten Krankheitsbild um eine Schädigung der lumbalen oder sakralen Nervenwurzeln handelt. Stets ist ein mechanischer Vorgang die Ursache für die Beschwerden und Symptome, in der Mehrzahl der Fälle ein Bandscheibenschaden. Die ständig verbesserten Mög-

lichkeiten der Diagnostik durch die Kontrastmittelverfahren erleichtern die Entscheidung über das therapeutische Vorgehen. In vielen Fällen führt die konservative

W. Arns und Antje Hüter Universitäts-Nervenklinik Köln (Direktoren: Prof. Dr. W. Scheid, Prof. Dr. A. Stammier)

- Haltungs- und Bewegungsschulung, - Hinweise für den Alltag. Im akuten Stadium ist die paravertebrale Muskulatur meist bretthart und schmerzhaft verspannt. Sie reagiert auf Berührung mit erhöhter Abwehrspannung. Massage ist zu diesem Zeitpunkt daher weniger hilfreich als eine Lockerungsbehandlung im warmen Bewegungsbad. Bei Nachlassen der Muskelspannung können schwingende Schüttelungen und großflächige Vibrationen auch die tiefer gelegenen kleinen Wirbelsäulenmuskeln lockern.

Schmerzfreiheit und muskuläre Entspannung sind

setzungen ist ein operativer Eingriff unumgänglich.

Voraussetzung zur Wiederherstellung der Wirbelsäulenbeweglichkeit. Im Bewegungsbad, im Schlingengerät bei

Erstes Stadium

Matte wird der Patient in dosiertem Ausmaß erst passiv, dann aktiv mobilisiert. Alle Bewegungsrichtungen der

Im ersten Stadium der Bandscheibenschädigung drängt sich der gallertartige Kern (Nucleus pulposus) der Bandscheibe in kleinere Einrisse des in seiner äußeren Begrenzung unversehrten bindegewebigen Faserrings (Anulus fibrosus) hinein. Dieses »dérangement interne« führt zu dem als Lumbago oder »Hexenschuß« bezeichneten Syndrom. Es ist gekennzeichnet durch lokale Schmerzen, verstärkt durch Husten oder Pressen, eine Verspannung der paravertebralen Muskulatur und eine Schonhaltung der Lendenwirbelsäule. Neurologische Ausfallserscheinungen bestehen nicht. Die Behandlung in diesem Stadium hat weitgehende Schmerzlinderung, Entlastung der Wirbelsäule und eine Entspannung der Muskulatur zum Ziel. Die Schmerzlinderung gelingt meist hinreichend durch orale oder als Suppositorien verabreichte Analgetika. Lokale Injektionen in das ohnedies schon gereizte Muskelgewebe sollten vermieden werden. Die Entlastung

Wirbelsäule werden in der Behandlung ausgenutzt,

Behandlung zum Erfolg, unter bestimmten Voraus-

der Wirbelsule wird durch strenge Bettruhe gewährleistet. Der Muskelentspannung dienen örtliche Wärmeanwendungen und eine geeignete Lagerung des Patienten. Gewählt wird eine Entspannungslagerung, die dem Kranken Erleichterung verschafft. Dies kann eine verstärkte Lordosierung der Wirbelsäule durch Flachiagerung (Brett unter die Matratze) oder Verminderung der Lordose im Stufenbett sein. Bei hartnäckigen Beschwerden erfolgt krankengymnastische Behandlung unter den Gesichtspunkten: - Lösen der Verspannungen, - Wiederherstellen der Wirbelsäulenbeweglichkeit,

Aufhängung des Beckens und der Beine oder auf der

lediglich schmerzhafte Bewegungen bleiben einem späte-

ren Zeitpunkt vorbehalten. Es ist wichtig, daß der Patient frühzeitig an seine Bewegungsmöglichkeiten zurückgeführt wird, damit er nicht durch ängstliches Fixieren erneut Verspannung und Schmerzen hervorruft. Die Haltungs- und Bewegungsschulung hat zum Ziel

den koordinierten Einsatz aller der Muskeln, die das Becken aufrichten und damit die physiologische Krümmung der Lendenwirbelsäule garantieren. Hierbei steht im Vordergrund nicht sosehr die Kraft, als vielmehr die statische und dynamische Ausdauer der Rumpf-, Beckenund Beinmuskulatur. Nur bei ausgeprägten Schwächen,

die allerdings eher in den Bauch- als in den Rückenmuskeln festzustellen sind, wird ein ausgeprochenes Krafttraining notwendig. Der Patient muß lernen, bei allen Bewegungen und vor allem auch beim Gehen die Beckenaufrichtung muskulär zu halten. Stützmieder sollten nicht verordnet werden; sie unterstützen die Inaktivitätsschwäche der Muskulatur, nicht aber die Haltung. Um den Behandlungseffekt zu erhalten und neuerliche

Beschwerden zu vermeiden oder zu mildern, sollte der Patient einige Regeln und Hinweise beachten: - täglich das erlernte Obungsprogramm durchführen, - nicht bücken, sondern in die Hocke gehen, - nicht einseitig schwer tragen,

- schwimmen, - abrupte und schwunghafte Bewegungen vermeiden, - Brett unter die Matratze.

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Konservative Behandlung des lumbalen Bandscheibenschadens

Deutsche Medizinische Wochenschrift

Arns, Hüter: Konservative Behandlung des lumbalen Bandscheibenschadens

Zweites Stadium

methoden ohne Schwierigkeiten selbständig anwenden

In einem weiteren Stadium kommt es zur Bandscheibenprotrusion. Der Bandscheibenkern drängt sich gegen die

Wenn Kraft und lokale Ausdauer zufriedenstellende Trainingsgewinne zeigen, wird der Muskel in koordi-

äußere Begrenzung des Faserringes oder durch diesen hindurch. Es entsteht eine Vorwölbung des hinteren Längsbandes der Wirbelsäule mit Druck auf die Nervenwurzeln. Zu den Lokalbeschwerden des ersten Stadiums treten jetzt radikuläre Schmerzen, die in das entsprechende Versorgungsgebiet im Bein ausstrahlen, und es können sich Paresen und Sensibilitätsstörungen entwikkein.

Die Therapie umfaßt wiederum Schmerzlinderung und Lagerung. Dir krankengymnastische Behandlung wird um folgende Gesichtspunkte erweitert:

- Vermindern der Druckwirkung durch Erweitern der Zwischenwirbelräume,

- Steigern der Kraft und lokalen Ausdauer paretischer Muskeln,

- Einbeziehen der paretischen Muskeln in koordinierte Bewegungsabläufe.

Erst wenn der Patient schmerzfrei und muskulär ent-

spannt ist, kann mit einer Extensionsbehandlung zur Minderung der Druckwirkung begonnen werden. Wichtig ist, daß der Extensionszug bei fixiertem Thorax am

Becken ansetzt und mit ausreichender Kraft (je nach

Konstitution bis zu 70 kg) durchgeführt wird. Das Perische Gerät erfüllt diese Forderungen nicht. Es dient lediglich einer Dehnung und damit eventuellen Entspannung der Rückenmuskeln. Die Dauer der Extension be-

trägt 40SO Minuten. Anschließend soll der Patient ruhen. Sind Paresen durch den Druck auf die Nervenwurzeln

entstanden, so wird mit einem statischen Training die Muskelkraft gesteigert. Die maximale statische Kontraktion muß dabei mindestens dreimal täglich über S-7 Sekunden aufrechterhalten werden, um als adäquater Trainingsreiz zur Dickenzunahme der einzelnen Muskelfaser zu führen. Die lokale Muskelausdauer wird durch wiederholte dynamische Kontraktionen gefördert. Nach

kurzer Anleitung wird der Patient beide Trainings-

können.

nierte Bewegungsabläufe des entsprechenden Körperabschnittes einbezogen. Durch das Ausnutzen propriozep-

tiver Reize wie Vordehnung, Berührung, Druck, Zug werden diese harmonisch aufeinander abgestimmten Muskelaktionsfolgen erleichtert. Ziel der Behandlung ist die störungsfreie Alltagsbewegung des Patienten auch ohne Innervations- und Führungshilfen durch den Krankengymnasten. Haltungs- und Bewegungsschulung sowie Hinweise für den Alltag erfolgen in gleicher Weise, wie oben dargestellt.

Nehmen trotz der konservativen Behandlung die Beschwerden und Ausfallserscheinungen zu, so ist eine Operation angezeigt. Ein chirurgisches Vorgehen ist auch dann geboten, wenn die Symptome bei konservativer Therapie nach 10-14 Tagen unverändert fortbestehen. Meist hat dann das Bandscheibengewebe das hintere Längsband durchbrochen und komprimiert als Bandscheibenprolaps eine oder mehrere Nervenwurzeln. Das Auftreten einer Blasenfunktionsstörung ist Indikation zur sofortigen Operation. Literatur Arns, W., A. Hüter: Krankengymnastik bei neurologischen Erkrankungen (Richard Pflaum Verlag: München 1975).

Jochheim, K.-A., F. Loew, A. Rütt: Lumbaler Bandscheibenvorfall. Konservative und operative Behandlung

(Springer: BerlinGöttingenHeidelberg 1961).

Loew, F., K.-A. Jochheim,

R. Kivelitz: Klinik und Behandlung der lumbalen Bandscheibenschäden. In: Kempe, L. G., W. Krenkel, W. Schiefer, M. G. Yasargil (Hrsg.): Handbuch der Neurochirurgie, Bd. VII (Springer: BerlinHeidelbergNew York 1969).

(4) Mumenrhaler, M., H. Schliack: Läsionen peripherer Nerven. 2. Aufl. (Thieme: Stuttgart 1973). (5) Scheid, W.: Lehrbuch der Neurologie. 3. Aufl. (Thieme: Stuttgart 1968).

Dr. W. Arns Universitäts-Nervenklinik 5000 Köln 41, Joseph-Stelzmann-Str. 9

Antje Hüter Ausbildungsleiterin der staatlich anerkannten Schule für Krankengymnastik an der Orthopädischen Klinik und Poliklinik der Universität 6900 Heidelberg-Schlierbach, Schlierbacher Landstraße

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[Conservative therapy of lumbar intervertebral disk lesions].

Nr. 15, 9. April 1976, 101. Jg. Arns, 1-lüter: Konservative Behandlung des lumbalen Bandscheibenschadens Aktuelle Therapie 5 87 Redaktion: Prof. D...
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