Originalien Schmerz 2014 · 28:600–606 DOI 10.1007/s00482-014-1487-2 Online publiziert: 3. September 2014 © Deutsche Schmerzgesellschaft e.V. Published by Springer-Verlag Berlin Heidelberg - all rights reserved 2014

S. Leisner1 · A. Gerhardt1 · J. Tesarz1 · S. Janke1 · G.H. Seidler2 · W. Eich1 1 Sektion Integrierte Psychosomatik, Klinik für Allgemeine Innere Medizin und Psychosomatik,

Universitätsklinikum Heidelberg, Heidelberg 2 Sektion Psychotraumatologie, Klinik für Allgemeine Innere Medizin und Psychosomatik, Universitätsklinikum Heidelberg, Heidelberg

Frühe Missbrauchserlebnisse   bei chronischem Kreuzschmerz Direkte und mediierte Effekte früher Missbrauchserlebnisse auf verschiedene Schmerzdimensionen chronischer nichtspezifischer Kreuzschmerzen

Etwa jede fünfte Person in Deutschland leidet unter chronischen Kreuzschmerzen [“chronic low back pain“ (CLBP); [12]]. Die Entstehung und Aufrechterhaltung nichtspezifischer CLBP wird durch psychosoziale Faktoren beeinflusst [2]. Frühe Missbrauchserlebnisse (FME) in der Kindheit und Jugend werden hierbei als möglicher Risikofaktor diskutiert [6]. Inwiefern FME mit spezifischen Schmerzdimensionen bei CLBP assoziiert sind und ob diese durch psychische Symptome vermittelt werden, prüft die vorliegende Studie. Physische, sexuelle und emotionale FME werden von CLBP-Personen gehäuft berichtet [6, 19]. Ob FME generell mit CLBP assoziiert sind oder nur spezifisch mit einzelnen Schmerzdimensionen (Intensität, Ausbreitung, Schmerzempfindung u. a.) zusammenhängen, wurde bisher nicht untersucht. Dass zwischen verschiedenen Dimensionen des Schmerzes zu unterscheiden ist, zeigt sich im Erleben des Patienten und in der klinischen Behandlung von CLBP [26]. Allgemeine traumatische Erlebnisse, z. B. schwere Unfälle, sind bei der Entstehung von CLBP direkt mit einer erhöhten Schmerzintensität assoziiert, jedoch nur indirekt – bei Vorliegen depressiver Sym-

600 | 

Der Schmerz 6 · 2014

ptome – mit einer vermehrten schmerzbedingten Beeinträchtigung [29]. Familiäre und berufliche Stressfaktoren gehen bei CLBP mit einer erhöhten affektiven und sensorischen Schmerzempfindung einher [7]. Frauen mit sexuellem Missbrauch weisen deutlich stärker ausgebreitete Schmerzsymptome auf als Frauen ohne Missbrauch [8]. Somit ist anzunehmen, dass auch FME mit diesen Schmerzdimensionen verknüpft sind. Prävalenzstudien zeigen zudem, dass psychosoziale Faktoren bei retrospektiv erhobenen FME-Daten in CLBP-Populationen bedeutsam sind [21]. Ob die Zusammenhänge von FME mit verschiedenen Schmerzdimensionen durch psychosoziale Variablen, wie komorbide ängstliche, depressive [13] oder dissoziative Symptome [22] mediiert werden, ist unklar. Ziel der Studie ist es, zu prüfen, ob FME mit einzelnen Schmerzdimensionen des CLBP wie Intensität, Ausbreitung, Beeinträchtigung und Schmerzempfinden assoziiert sind und ob diese Zusammenhänge direkt oder indirekt – über die Mediatoren Angst, Depression oder Dissoziation – bestehen.

Material und Methoden Die Studie ist Teil des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung

(BMBF) geförderten Forschungsverbunds LOGIN (Förderkennzeichen 01EC1010A) und wurde mit Zustimmung der Ethikkommission der Medizinischen Fakultät der Universität Heidelberg (S-261/2010) und im Einklang mit der Deklaration von Helsinki durchgeführt. Die Studienteilnehmer unterschrieben vor dem Einschluss eine schriftliche Einverständniserklärung und erhielten eine Aufwandsentschädigung von 30 €. Weitere Details finden sich im Studienprotokoll [14].

Stichprobe Die Rekrutierung erfolgte aus einem breiten Pool von CLBP-Personen aus sowohl epidemiologischem als auch klinischem Setting (Schmerzambulanz der Universitätsklinik Heidelberg). Eingeschlossen wurden Personen ab dem 18. Lebensjahr mit ärztlich validiertem nichtspezifischem CLBP als Hauptschmerz. Ein CLBP wurde definiert als ein Schmerz im unteren Rückenbereich (unterhalb des Rippenbogens und oberhalb der Gesäßfalten), der innerhalb der letzten 3 Monate an mindestens 45 Tagen vorlag. In einer ärztlichen Untersuchung durch einen Facharzt für innere Medizin und eine Assistenzärztin mit jeweils mehrjähriger schmerzmedizinischer Erfahrung wurden Personen mit einer spezifischen Genese des CLBP,

Zusammenfassung · Abstract z. B. mit Spinalkanalstenose, Spondylis­ thesis, akutem Bandscheibenvorfall, Infektion, Fraktur oder Tumor, ausgeschlossen. Die Untersuchung beinhaltete rheumatologische, orthopädische, neurologische und internistische Testungen, eine umfassende Anamnese, die Sichtung früherer Befunde, Laboruntersuchungen und ggf. weitere technische Untersuchungen (Magnetresonanztomographie, Computertomographie). Fachärzte weiterer Disziplinen konnten jederzeit hinzugezogen werden. Im Zweifel wurde der Patient ausgeschlossen.

Erhebungsinstrumente Soziodemografie

Mit einem Fragebogen wurden die soziodemografischen Variablen Alter, Geschlecht sowie Familien-, Bildungs- und Berufsstand erhoben.

Frühe Missbrauchserlebnisse

Mit dem Childhood Trauma Question­ naire (CTQ, [28]) wurden FME im Kindes- und Jugendalter erhoben. Der CTQ erfasst retrospektiv sexuelle, körperliche und emotionale FME über je 5 Items mit 5-stufigem Antwortformat (1, überhaupt nicht; 5, sehr häufig). Körperliche FME beinhalten körperliche Misshandlungen in unterschiedlicher Intensität (z. B. „Als ich aufwuchs, schlugen mich Personen aus meiner Familie so stark, dass ich blaue Flecken oder Schrammen davontrug.“). Unter sexuellen FME werden sexuelle Belästigungen, Nötigungen und Misshandlungen erfragt (z. B. „Als ich aufwuchs, belästigte mich jemand sexuell.“). Emotionale FME umfassen verbale Angriffe und Abwertungen in der Familie (z. B. „Als ich aufwuchs, hatte ich das Gefühl, es hasste mich jemand in meiner Familie.“). Anhand vorliegender Cut-off-Werte (emotionale FME: 9; körperliche FME: 8; sexuelle FME: 6) wurden die dimensionalen Skalen (5–25) dichotomisiert [5] und ein kategorialer FME-Gesamtwert erstellt (ja, mindestens ein FME vs. kein FME). Alle Missbrauchsskalen des CTQ sind reliabel (Cronbachs α=0,85–0,96; [5, 28]).

Schmerz 2014 · 28:600–606  DOI 10.1007/s00482-014-1487-2 © Deutsche Schmerzgesellschaft e.V. Published by Springer-Verlag Berlin Heidelberg - all rights reserved 2014 S. Leisner · A. Gerhardt · J. Tesarz · S. Janke · G.H. Seidler · W. Eich

Frühe Missbrauchserlebnisse bei chronischem Kreuzschmerz. Direkte und mediierte Effekte früher Missbrauchserlebnisse auf verschiedene Schmerzdimensionen chronischer nichtspezifischer Kreuzschmerzen Zusammenfassung Hintergrund.  Frühe Missbrauchserlebnisse (FME) in der Kindheit und Jugend werden als Risikofaktor für die Entstehung und Ausbreitung chronischer Schmerzen diskutiert. Ob spezifische Zusammenhänge zwischen FME und unterschiedlichen Schmerzdimensionen bei chronischen nichtspezifischen Kreuzschmerzen [“chronic low back pain“ (CLBP)] bestehen und ob psychische Symptome diese vermitteln, ist nicht bekannt. Material und Methoden.  Mittels Schmerzzeichnung, multidimensionalem Schmerzfragebogen und Schmerzempfindungsskala wurden 103 Personen mit klinisch validiertem CLBP untersucht. Mit dem Childhood Trauma Questionnaire wurden retrospektiv physische, sexuelle und emotionale FME im Kindes- und Jugendalter erfragt. Als mögliche Mediatoren wurden ängstliche, depressive und dissoziative Symptome erfasst. Ergebnisse.  CLBP-Personen mit FME geben im Vergleich zu CLBP-Personen ohne FME höhere Schmerzintensitäten, eine größere Schmerzausbreitung, höhere affektive

und sensorische Schmerzempfindungen sowie eine stärkere Beeinträchtigung durch den Schmerz an. In multivariaten Analysen zeigt sich nur ein direkter Zusammenhang von FME mit der Schmerzausbreitung. Ein indirekter – über dissoziative und ängstliche Symptome vermittelter – Zusammenhang besteht zur sensorischen Schmerzempfindung. Diskussion.  Der Einfluss von FME auf CLBP unterscheidet sich zwischen den Schmerzdimensionen, sodass eine differenzierte Betrachtung erforderlich ist. FME scheinen ein Risikofaktor für die räumliche Ausbreitung von Schmerzen bei CLBP-Personen zu sein. Spezifische diagnostische und ggf. therapeutische Angebote bei CLBP mit zusätzlichen Schmerzarealen scheinen indiziert. Schlüsselwörter Chronischer Schmerz · Schmerzausbreitung · Schmerzempfindung · Dissoziation · Missbrauchserlebnisse

Childhood abuse experiences and chronic low back pain. Direct and mediated effects of childhood abuse in different pain dimensions of nonspecific chronic low back pain Abstract Background.  Physical, sexual and emotional abuse in childhood and adolescence is considered to play a role in the etiology and generalization of chronic pain in adulthood. However, it remains unclear whether abuse is specifically associated with different dimensions of nonspecific chronic low back pain (CLBP) and if these associations are mediated by psychological symptoms. Material and methods.  A total of 103 patients with validated CLBP were assessed by pain drawing, the multidimensional pain questionnaire and the pain experience scale. The childhood trauma questionnaire was used to retrospectively screen for physical, sexual and emotional abuse in childhood and adolescence. Patients were also screened for symptoms of depression, anxiety and dissociation in order to look for possible mediators. Results.  Patients with CLBP who reported childhood abuse showed higher pain intensity, higher spatial extent of pain, higher affective and sensory pain sensation and more pain disability compared to CLBP pa-

tients who had not experienced abuse. However, multivariate analyses revealed that only the spatial extent of pain was directly associated with childhood abuse. Furthermore, a significant association between childhood abuse and sensory pain sensation was found to be mediated by symptoms of anxiety and dissociation. Conclusion.  The influence of childhood abuse on CLBP is different for specific pain dimensions; therefore, CLBP should be faced as a complex construct that comprises different dimensions. Childhood abuse is suggested as a risk factor for spreading pain in CLBP persons; therefore, CLBP patients reporting additional pain locations might benefit from diagnostic and therapeutic interventions specific for childhood abuse experiences. Keywords Chronic pain · Spreading pain · Pain sensation · Dissociation · Childhood abuse

Der Schmerz 6 · 2014 

| 601

Originalien Tab. 1  Soziodemografie  

Geschlecht (weiblich) Familienstatus (verheiratet) Schulbildung (≥10 Jahre) Beruflicher Status (berufstätig) Alter (Jahre; MW±SD)

CLBP gesamt, n=103 n (%) 70 (68,0)

CLBP ohne FME, n=61 n (%) 36 (59,0)

CLBP mit FME, n=42 n (%) 34 (81,0)

72 (69,9)

44 (72,1)

28 (66,7)

0,55

62 (60,2)

37 (60,7)

25 (59,5)

0,91

Statistische Auswertung

39 (37,9)

27 (44,3)

12 (28,6)

0,11

57,5±10,9

58,6±11,2

56,0±10,5

0,25

Fehlende Werte wurden – entsprechend der Fragebogenmanuale – ersetzt. Kontinuierliche Variablen wurden durch MW und Standardabweichungen (SD) dargestellt. Gruppenvergleiche erfolgten mit dem t-Test oder nichtparametrischen Mann-Whitney-U-Test. Kategoriale Variablen wurden anhand der absoluten und prozentualen Häufigkeiten beschrieben und in Gruppenvergleichen mit dem χ2-Test untersucht. Direkte und indirekte Zusammenhänge wurden über 4-stufige multivariate Regressionsanalysen geprüft, mit den Schmerzdimensionen als Kriterien und Geschlecht, Alter, Schmerz­ intensität, FME, Dissoziation, Angst und Depression als Prädiktoren. Mediatorvariablen wurden nach Baron u. Kenny [4] getestet.

0,02

Dichotomisierung:

[Childhood abuse experiences and chronic low back pain. Direct and mediated effects of childhood abuse in different pain dimensions of nonspecific chronic low back pain].

Physical, sexual and emotional abuse in childhood and adolescence is considered to play a role in the etiology and generalization of chronic pain in a...
375KB Sizes 0 Downloads 11 Views