Nr. 40, 7. Oktober 1977, 102. ]g.

Mebs: Bißverletzungen durch »ungiftige« Schlangen

Übersichten

Dtsch. med. Wschr. 102 (1977), 1429-1431

© Georg Thieme Verlag, Stuttgart

Spricht man von Schlangen, so unterscheidet man leichthin zwischen giftigen und ungiftigen. Giftschlangen wie Kobras, Mambas, Vipern und Klapperschlangen töten im allgemeinen ihre Beute durch einen Biß, bei dem sie Gift injizieren, an welchem das Beutetier meist rasch zugrunde geht. Häufig genug werden sie auch dem Men.sehen gefährlich, in manchen tropischen Gebieten geht eine nicht geringe Zahl von Todesfällen auf ihr Konto. Bei der Einteilung der Schlangen in giftige und ungiftige wird aber leicht übersehen, daß zwar die Giftschlangen, was Anatomie und Funktion des Giftapparates, Wirkungsweise und Zusammensetzung des Giftsekretes angeht, inder Evolution sicher einen Höhepunkt erreicht haben, daß aber auf dem Weg dorthin innerhalb dieser Reptiliengruppe mehrfach der Versuch gemacht wurde, Gift zum Beuteerwerb einzusetzen. Denn auch unter den sogenannten ungiftigen Schlangen sind bei einer Vielzahl von Arten Drüsen ausgebildet, die Duvernoysche Drüse, die den eigentlichen Giftdrüsen der Giftschlangen homolog ist. Darüber hinaus verfügt auch eine stattliche Anzahl von Arten über einen, wenn auch vergleichsweise einfacheren Giftapparat: gemeint sind hier die sogenannten Trugnattern. Im zähnetragenden Maxillare, im Oberkiefer, weit hinten im Rachen besitzen sie einen längeren, mit einer mehr oder minder stark ausgeprägten Rinne versehenen Zahn (auch mehrere sind nicht selten), an dessen Basis Ausführungsgänge der Duvernoyschen Drüse münden. Zähne und Giftapparat im Oberkiefer sind verschieden angeordnet: Beginnend mit gleichmäßig aufgereihten, das gesamte Maxillare füllenden Zahnreihen der aglyphen Schlangen (Zähne rund, ohne Rinne; zu dieser Gruppe zählt zum Beispiel die Ringelnatter, Natrix natrix) führt die Entwicklung zu den schon erwähnten Trugnattern, den opisthoglyphen Schlangen (ein oder auch mehrere größere Zähne am Ende der Zahnreihe mit einer Rinne versehen). Es folgen die proteroglyphen Giftnattern (Kobras, Mambas, Korallenschlangen), bei denen das Maxillare vollkomm~n umgebildet ist und nur noch einen Giftzahn trägt, dessen Rinne fast ganz geschlossen ist und sich nur an der Spitze öffnet, und schließlich die solenoglypben Giftschlangen (Vipern, Klapperschlangen), bei denen der Zahn wie eine Injektionsnadel hohl ist und ebenfalls eine Öffnung an der Spitze hat. Bedingt durch die anatomische Lage ihrer Giftzähne, weit hinten im Rachen, können die Trugnattern ihren Giftbiß im allgemeinen nur bei kleineren Beutetieren, wie Mäusen oder Eidechsen, wirksam anbringen, indem sie diese nach dem Zubeißen festhalten, die Kiefer über

D.Mebs Zentrum der Rechtsmedizin, Abteilung I, Klinikum der Universität FrankfurtlMain

die Beute schieben und das Giftsekret durch Druck der Kiefermuskulatur aus der Duvernoyschen Drüse pressen, das dann durch die Zahnrinne in das Beutetier fließt. Daß auch hier äußerst aktive Giftsekrete gebildet werden, kann jeder Schlangenpfleger bestätigen, der immer wieder beobachtet hat, wie schnell, oft binnen Minuten, Beutetiere nach dem Zubeißen aufhören zu zappeln und leblos erschlaffen. In den meisten Fällen werden diese Schlangen dem Menschen nicht gefährlich, da aus den erwähnten Gründen der Giftzahn, etwa bei einem Biß in den Arm oder das Bein, nicht mit der Haut in Berührung kommt. Dies kann mitunter aber doch der Fall sein, wenn der Biß etwa in den Finger erfolgt. Dann kann es - dies ist bei drei Arten bekannt>- zu schweren, lebensgefälirlichen Vergiftungen kommen. Tab.1. Schlangenarten, vorwiegend Trugnattern, deren Biß dem Menschen gefährlich werden kann Schlangenspecies

I Vorkommen I

Ahaetulla papuae (1)

Neuguinea

Alsophis angulifer (2)

Kuba

Boiga dendrophila (3)

Südostasien

Coluber ravergieri (4)

Vorderasien

Conophis lineatus (5)

Mittelamerika

Crotaphopeltis hotamboeia (6)

mittleres und südliches Afrika Nordamerika, Mexiko

Heterodon nasicus (7) (Abbildung 4) Heterodon platyrhinus (8)

Nordamerika

Leptophis diplotropis (9)

Mexiko

Macrelaps microlepidotus (10)

südliches Afrika

Philodryas olfersii (11) (Abbildung 3)

Südamerika

Symptome

lokale Symptome, Schwellungen um die BißsteIle, Hautverfär-

bungen, Schmerzhaftigkeit um die BißsteIle, Taubheitsgefühle

Trimerorhinus rhombeatus (6, südliches 10), tritaeniatus (6, 10) Afrika

Rhabdophis tigrinus (12, 13)

Japan, Korea, China

Dispholidus typus (14-20) (Abbildung 1)

mittleres und südliches Afrika

Thelotornis kirtlandii (10, 21, 22) (Abbildung 2)

Störung der Blutgerinnung (Verbrauchskoagulopathie), Blutungen ins Gewebe, mehrere tödliche Bißfälle

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Bißverletzungen durch »ungiftige« Schlangen

Mebs: ßißverlerzungen durch »ungifrige« Schlangen

Deutsche Medizinische Wochenschrift

Bei Durchsicht weniger der medizinischen als der Dispholidus typus verursacht, zwei durch Thelotornis zoologischen Literatur lassen sich, was die Reaktionen kirtlandii. Dies sind jedoch nur Fälle aus der Literatur, beim Menschen nach Bißverletzungen durch diese Trug- unbekannt ist, wie hoch tatsächlich die Todesrate anzunattern angeht, zwei Gruppen unterscheiden (Tabelle 1): setzen ist, zumal in vielen afrikanischen Ländern, in Schlangen, nach deren Biß in der Mehrzahl der Fälle denen die beiden Schlangen vorkommen, eine umfaslediglich lokale Reaktionen auftreten, und Schlangen, sende medizinische Versorgung fehlt, geschweige denn deren Biß schwerwiegende, auch tödliche Folgen hat. Bei eine Statistik vorhanden ist. der ersten Gruppe finden sich eine Reihe vornehmlich Beiden Schlangen gemeinsam ist, daß nach ihrem Biß tropischer Arten, vielfach buntgefärbte Baumschlangen, binnen weniger Stunden eine massive Verbrauchsbei deren Biß es meist zu Schwellungen um die Bißstelle koagulopathie auftritt, die mehrere Tage bis Wochen ankommt, zu Hautverfärbungen, sowie mitunter über halten kann, verbunden mit schweren subkutanen Blumehrere Tage anhaltende Schmerzhaftigkeit auftritt, ge- tungen um die Bißstelle, aus Hautwunden, dem Zahnfolgt von einem Taubheitsgefühl. Andrerseits wird die fleisch. Vielfach kommt es zum Erbrechen von Blut und Wirkung oft als bienenstichartig beschrieben und vergeht zu Blutstühlen. Der Patient versinkt in tiefe Bewußtlosigrasch wieder. Sicher sollte man aber auch hier nicht zur keit, Nierenversagen tritt auf, das in einem Fall eines Unterschätzung neigen. Bei den beschriebenen Vergif- Dispholidus- und in zwei Fällen eines Thelotornis-Bisses tungsfällen handelte es sich fast immer um männliche Er- bis zum Eintritt des Todes bestand. Bei der Autopsie finwachsene, die als Tierpfleger, Fänger oder private Tier- den sich ausgedehnte Blutungen in fast allen Organen, liebhaber in guter körperlicher Verfassung waren. Nicht Fibrinthromben in Kapillaren, teilweise auch in großen abzuschätzen wären aber die Folgen, wenn zum Beispiel Venen. Einzige spezifische Therapie ist im Falle eines ein Kind davon betroffen würde. Deshalb ist die Eintei- Dispholidus-Bisses die intravenöse Injektion von monolung mit gewissen Einschränkungen, da eben nur Erfah- valentem Antiserum, das erstaunlich rasch zu einer Besserungsberichte aus der Literatur vorliegen, zu betrachten. rung führt, vor allem wohl eine Inaktivierung des sonst Kurz erwähnt sei nur die Natter Coluber ravergieri, die noch lange im Kreislauf verbleibenden gerinnungsstörenzwar zu den aglyphen Schlangen, also nicht zu den Trug- den Prinzips bewirkt. Dieses Serum, das vom Southnattern zählt, aber trotzdem ein Giftsekret in die Wunde African Institute for Medical Research in Johannesburg zu leiten versteht, das erhebliche Schwellungen und produziert wurde, hat sich in einer Reihe von Fällen, unSchmerzen verursacht. ter anderem auch in Europa, als lebensrettend erwiesen, Anders sieht es bei der zweiten Gruppe aus. Hier lie- da andere Maßnahmen wie Austauschtransfusionen häugen gesicherte klinische Daten vor, teilweise sind auch fig ohne erkennbare Wirkung blieben. Es ist streng speziErgebnisse über die Wirkungsweise des Giftes selbst be- fisch für das Gift von Dispholidus typus und zeigt keine kannt. Kreuzreaktion mit dem von Thelotornis kirtlandii, ist Von der in Ostasien beheimateten Colubride Rhabdo- also für letzteres wirkungslos. Bedauerlicherweise wird phis tigrinus liegen vier Bißfälle vor (12, 13), in denen das Serum nicht mehr hergestellt, in Europa dürften jeweils schwere Vergiftungssymptome beobachtet' wur- mittlerweile kaum noch Ampullen vorhanden sein. In den: Zwei Erwachsene und zwei Kinder, 11 und 13 Jahre Fällen, in denen Privatleute, die diese Schlangen halten, alt, waren gebissen worden. In allen Fällen war das Auf- oder Zoopersonal gebissen werden, steht somit kein treten von Blutungen aus der Bißwunde und aus älteren wirksames Mittel für eine erfolgreiche Therapie zur VerVerletzungen, etwa aus Rasiernarben, sowie aus dem fügung, für Thelotornis ohnehin nicht. Zahnfleisch, verbunden mit einer rasch auftretenden In beiden Schlangengiften ist ein sehr aktives Enzym Verbrauchskoagulopathie, charakteristisch. Hämaturie, enthalten, das die Aktivierung von Prothrombin zu Blutungen ins Gewebe, um die Bißwunde, an Infusions- Thrombin bewirkt und somit rasch zur Defibrinogeniestellen und eine extrem verlängerte Gerinnungszeit hiel- rung führt, was Untersuchungen an Extrakten von Drüten über 8-9 Tage an. s-Aminocapronsäure wurde in ei- sen dieser beiden Schlangenarten bestätigt haben. Genem Fall injiziert und soll eine gerinnungsstabilisierende rade Thelotornis-kirtlandii-Gift besitzt, dies wurde erst Wirkung gehabt haben, in einem anderen Fall wurden vor kurzem nachgewiesen, ein Enzym dieser Spezifität in Austauschtransfusionen vorgenommen. Alle Patienten bisher einmaliger Aktivität und Konzentration. überlebten, die Wirkung der angewandten therapeutiBißverletzungen durch die beiden letztgenannten schen Maßnahmen ist nicht gesichert. Untersuchungen Schlangen zählen somit zu den gefährlichsten Vergiftunam Gift dieser Schlange - es wurden Drüsenextrakte ver, gen und können durchaus, was den Grad des Risikos anwendet - ergaben, daß es eine Prothrombin-aktivierende geht, mit denen durch afrikanische oder asiatische Komponente, möglicherweise über Faktor X, enthält, Kobras, den australischen Taipan und den afrikanischen welche die Gerinnungsstörungen verursacht haben Mamba verglichen werden, wobei letztere bei noch dürfte (23). rechtzeitig eingeleiteter Serumtherapie durchaus erfolgNoch gefährlicher und auch tödlich verlaufend sind versprechend zu behandeln sind. die Bisse zweier afrikanischer Baumschlangen, der Keineswegs nur die sogenannten Giftschlangen kön»boomslang« Dispholidus typus (Abbildung 1*) und der nen also durch ihren Biß den Menschen gefährden, auch grauen Baumnatter Thelotornis kirtlandii (Abbildung unter den sogenannten ungiftigen Schlangen gibt es Ar2). Mindestens sechs Todesfälle wurden bisher durch ten, deren Biß mitunter zwar nur lokale Symptome, aber auch schwerste Erscheinungen hervorrufen kann. Daher * Abbildungen 1 bis 4 siehe Tafel Seite 1427

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Dr. D. Mebs Zentrum der Rechtsmedizin Abteilung I Klinikum der Universität 6000 Frankfurt/Main, Kennedyallee 104

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muß grundsätzlich davor gewarnt werden, Zwischenfälle mit sogenannten ungiftigen Schlangen zu unterschätzen.

Abb.1. Die südafrikanis che »boomslang«, Dispholidus typus, in Drohstellung.

Abb. 3. Südamerikanische Baumschlange, Philodryas oIfersii.

Abb.2. Die südafrikanische Baumschlange Th eiotornis kirtl andii .

Abb. 4. Nord amerikani sche H akennatter, Heterodon nasicus.

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Bißverletzungen durch »ungiftige« Schlangen

[Bites of nonpoisonous snakes].

Nr. 40, 7. Oktober 1977, 102. ]g. Mebs: Bißverletzungen durch »ungiftige« Schlangen Übersichten Dtsch. med. Wschr. 102 (1977), 1429-1431 © Georg T...
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