Beiträge zum Themenschwerpunkt Z Gerontol Geriat 2014 · 47:17–22 DOI 10.1007/s00391-013-0590-9 Eingegangen: 21. Oktober 201 Überarbeitet: 9. November 2013 Angenommen: 26. November 2013 Online publiziert: 5. Januar 2014 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014

D. Strech CELLS-Centre for Ethics and Law in the Life Sciences, Institut für Geschichte, Ethik und Philosophie der Medizin, Medizinische Hochschule Hannover (MHH)

Der Abbau von Über-  versorgung als Teil der ärztlichen Berufsethik Konzeptionelle Klärung und neue Perspektive

Dieser Beitrag erläutert eine neue Perspektive auf die immer schon relevanten ärztlichen Bemühungen zur Vermeidung bzw. zum Abbau von Überversorgung. Diese neue Perspektive ergibt sich u. a. durch die zunehmenden Diskurse über Mittelbegrenzungen und die Notwendigkeit zur Rationierung. Zuerst sollen der Hintergrund aufgearbeitet und die relevanten, zentralen Begriffe voneinander abgegrenzt werden. Zu diesen zentralen Begriffen zählen F Rationalisierung, F Wirtschaftlichkeit, F Priorisierung, F Überversorgung und F Rationierung.

Zentrale Begriffe Nicht nur für Deutschland, sondern international wird darauf hingewiesen, dass in allen Gesundheitssystemen die begrenzt zur Verfügung stehenden finanziellen Mittel in bedeutsamen Maße ineffizient verwendet werden [1, 2, 3]. Diesem Problem sollte mit Rationalisierung begegnet werden. Im Folgenden werden Handlungsbereiche diskutiert, die einer genuin ärztlichen Rationalisierung zugeschrieben werden können. Nicht behandelt werden Handlungsbereiche, die dem Personal- oder Beschaffungsmanagement zugeschrieben werden können. Ärztliche Rationalisierung kann grundsätzlich in zwei Situationen notwendig werden:

F bei Missachtung des Wirtschaftlichkeitsgebots (§12 SGB V) oder F bei Überversorgung. Missachtung des Wirtschaftlichkeits­ gebots.  Eine Anwendung einer bestimmten Maßnahme ist dann nicht wirtschaftlich, wenn diese teurer ist als gleichwirksame Maßnahmen. Nach dieser Definition ist der Schaden nichtwirtschaftlichen Handelns zunächst monetär im Sinne einer ineffizienten Verwendung der solidarisch finanzierten Ressourcen für die Gesundheitsversorgung. Ein Patientenschaden entsteht erst dann, wenn nichtwirtschaftliches Handeln dazu beiträgt, dass aufgrund zunehmend begrenzter finanzieller Ressourcen zu einem bestimmten Zeitpunkt eine Rationierung erfolgt. Rationierung in Abgrenzung zur Rationalisierung meint, dass einem Patienten sinnvolle Maßnahmen allein aus Kostenüberlegungen vorenthalten werden. Überversorgung.  Dabei werden medizinische Maßnahmen angewendet, die keinen Mehrwert für den Patienten erwarten lassen, aber in letzter Konsequenz aufgrund der Nebenwirkungen dem Patienten sogar schaden können (Netto-Schaden). Im Unterschied zum nichtwirtschaftlichen ärztlichen Handeln schadet eine Überversorgung dem Patienten direkt und stellt zugleich eine ineffiziente Verwendung begrenzter Ressourcen dar,

was wiederum zu einem weiteren indirekten Patientenschaden führen kann. So verstanden, verbessert ärztliche Rationalisierung die Patientenversorgung bzw. vermeidet unnötigen Patientenschaden. Beides sind grundlegende Prinzipien der ärztlichen Berufsethik [4]. Sekundär schont eine Rationalisierung auch die begrenzten finanziellen Ressourcen im Gesundheitssektor.

Ethisch und juristisch vertretbare Rationale für DRGs und Budgets Die deutsche Gesundheitspolitik hat in den letzten drei Jahrzehnten mit verschiedenen Maßnahmen versucht, den Ausgabenanstieg im Bereich der Gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV) zu begrenzen. Eine dauerhafte Begrenzung der Gesundheitsausgaben konnte aber nicht erreicht werden. Gesundheitsökonomen und Versorgungsforscher gehen davon aus, dass sich die Mittelbegrenzung im Bereich der GKV durch medizinische Innovationen und v. a. durch den demografischen Wandel in Zukunft weiter verschärfen wird [5, 6, 7]. Im Jahr 2000 beschloss der Bundestag mit dem Gesetz zur Reform der GKV die flächendeckende Einführung eines pauschalierten Vergütungssystems (Diagnosis Related Groups, DRGs) ab 2003. Die damit angestrebte Reduzierung der Mittel soll die Leistungserbringer im Kran-

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Beiträge zum Themenschwerpunkt kenhaus zur Wirtschaftlichkeit bzw. zur rationalen Verwendung medizinischer Maßnahmen anhalten. Zumindest teilweise soll so der weitere Anstieg der Gesundheitsausgaben gebremst werden. Eine DRG-bedingte Mittelreduzierung sollte jedoch allein durch Rationalisierung aufgefangen werden. Denn nur eine Rationalisierung ist durch das Wirtschaftlichkeitsgebot nach §12 SGB V gedeckt. Rationierung hingegen kann strafoder haftungsrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen [8]. Nun wird durch die DRG vermittelte Ausgabenbegrenzung zunächst nur ein Kostendruck auf die individuellen Ärzte ausgeübt. Die DRGs geben keine weiteren Vorgaben, wie die knappen finanziellen Ressourcen unter den Patienten bzw. Indikationsbereichen verteilt werden sollen [9]. Die Ärzte können unterschiedlich auf diesen Kostendruck reagieren. Aus politischer und ökonomischer Perspektive gewünscht und noch wichtiger aus ethischer und medizinischer Perspektive geboten, wäre die Rationalisierung. Hierbei müssten die Ärzte Patienten mit einer bestimmten Erkrankung mit geringerem diagnostischen, präventiven und/oder therapeutischen Aufwand bei gleichbleibender oder sogar besserer Versorgungsqualität behandeln. Zur Erinnerung: Die Versorgungsqualität wäre trotz geringerem Aufwand F gleichbleibend, wenn allein wirtschaftlicher gehandelt wurde, F sogar besser, wenn Überversorgung abgebaut wurde, F schlechter, wenn rationiert wurde oder wenn zur Kompensation finanzieller Defizite neue Überversorgung eingeführt wurde. Politisch nicht erwünscht sowie rechtlich und unter bestimmten Bedingungen ethisch problematisch ist es, wenn Ärzte durch ein Absenken des Qualitätsniveaus oder durch das Vorenthalten nützlicher Maßnahmen, d. h. durch Rationierungen, auf den Kostendruck reagieren.

Alternativen zu Rationalisierung und Rationierung Neben der Rationalisierung und Rationierung stehen noch weitere alternati-

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ve Strategien zur Verfügung, um auf begrenzte Mittel in der Gesundheitsversorgung zu reagieren. Allerdings übersteigen diese den Handlungsspielraum individueller Ärzte. So können durch die Entscheidungsträger auf Systemebene Preise für medizinische Maßnahmen (z. B. Arzneimittel) direkt reguliert bzw. verhandelt werden. Die durch das Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz (AMNOG) eingeführte „Frühe Nutzenbewertung“ schafft z. B. für einen bestimmten Teil der Arzneimittel eine Basis für die Festsetzungen von Höchstbeträgen. Auch das 2010 vom Gesundheitsministerium ausgearbeitete Arzneimittelsparpaket ist eine Maßnahme im Sinne der Preisregulierung, welche auf eine Kostensenkung zielt. Die­se Maßnahme hat seit August 2010 den Herstellerrabatt für die gesetzlichen Krankenkassen von 6 auf 16% erhöht. Eine weitere Alternative zur Rationierung, Rationalisierung und Preisregulierung besteht darin, die im Gesundheitswesen verfügbaren finanziellen Mittel zu erhöhen. Diese auf den ersten Blick sehr plausible Maßnahme birgt potenzielle Nachteile: Würden mehr Mittel in das Gesundheitssystem fließen, müssten im Gegenzug kompensierende Einschränkungen in anderen sozialstaatlichen Bereichen wie Bildung, Arbeitslosenunterstützung, Verteidigung, Verkehr oder Umweltschutz hingenommen werden (Stichwörter: Reallokation oder Disinvestment). Die hier exemplarisch genannten sozialstaatlichen Bereiche haben mitunter eine hohe Relevanz für die Gesundheit der Bevölkerung [10]. Es ist davon auszugehen, dass v. a. vulnerable Gruppen wie Arbeitslose, Personen mit niedrigerem sozioökonomischen Status oder auch allein erziehende Eltern von der staatlichen Unterstützung in den Bereichen Wohnung, Bildung und Arbeit profitieren, insbesondere auch im Hinblick auf ihre Gesundheit und der ihrer Angehörigen. Für evidenzbasierte Informationen zu den gesundheitsrelevanten Auswirkungen einer Reallokation auf sozialstaatliche Bereiche im Gesundheitssektor fehlt bislang noch eine besser geförderte und evidenzbasierte PublicHealth-, Versorgungs- und Verhältnispräventionsforschung [11, 12].

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Diskussion zum Thema Rationierung Das Thema Rationierung wird seit dem Jahr 2008 zunehmend in der deutschen Ärzteschaft diskutiert. Im Mai 2008 wies die Bundesärztekammer in ihrem Ulmer Papier öffentlichkeitswirksam darauf hin, dass Rationierung gegenwärtig stattfinde und durch Rationalisierungen allein nicht zu verhindern sei [13]. Dies wurde in einem Positionspapier der Ärzteschaft von 2010 erneut bestätigt [14].

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Ärzte müssen bereits heute Maßnahmen rationieren Verschiedene empirische Studien mit Ärzten zum Thema „Umgang mit Mittelbegrenzungen“ werden von Strech [15] ausführlich dargestellt. In einer durch den Autor und Kollegen durchgeführten Umfragestudie bestätigten über drei Viertel der befragten Ärzte, bereits heute rationieren zu müssen. Allerdings gaben nur 13% der Studienteilnehmer an, häufig, d. h. mehr als einmal pro Woche, nützliche Maßnahmen aus Kostengründen vorenthalten zu müssen [16]. Gemäß dieser Untersuchung handelt es sich bei der Rationierung in deutschen Krankenhäusern trotz der damit verbundenen rechtlichen Problematik um ein weit verbreitetes, aber offenbar noch nicht sehr häufiges Phänomen (wobei 13% von etwa 150.000 Krankenhausärzten an sich keine kleine Gruppe sind). In der Umfragestudie zeigten Ärzte eine hohe Bereitschaft zur Rationalisierung: Die meisten (90%) würden auf eine kostengünstigere, vergleichbar effektive Maßnahme ausweichen (Wirtschaftlichkeitsgebot), auch gegen die ausdrücklichen Wünsche des Patienten. Allerdings sah die Mehrheit der befragten Ärzte (65%) bei sich keine weiteren Einsparmöglichkeiten durch ein wirtschaftlicheres Handeln. Eine weiterführende Diskussion der Ergebnisse der Umfragestudie sind bei Strech u. Marckmann [17] zu finden. Die Probleme einer Überversorgung in Deutschland sind den oberen Abschnitten oder beispielhaft aus den Ergebnissen der Versorgungsforschung, insbesondere für die Kardiologie, zu ent-

Zusammenfassung · Abstract nehmen [18, 19]. Leider sind dem Autor keine Studien bekannt, die untersuchen, wie bedeutsam deutsche Ärzte das Phänomen der Überversorgung im stationären und ambulanten Sektor einschätzen.

Z Gerontol Geriat 2014 · 47:17–22  DOI 10.1007/s00391-013-0590-9 © Springer-Verlag 2014

Priorisierung

Zusammenfassung Hintergrund.  Anders als das Thema Überversorgung werden die Themen Rationierung und Priorisierung in Deutschland seit etwa 5 Jahren zunehmend innerhalb der Ärzteschaft und im Austausch mit gesundheitspolitischen Akteuren diskutiert. Fragestellung.  Dieser Beitrag stellt die Zusammenhänge und Abgrenzungen zwischen Rationalisierung, Priorisierung und Rationierung dar. Er erläutert, warum und wie die deutsche Ärzteschaft das Thema Überversorgung transparent und intensiver als bisher adressieren sollte. Diskussion.  Eine ethisch gebotene ärztliche Rationalisierung umfasst maßgeblich den Abbau von Überversorgung. Um Bereiche der Überversorgung zu identifizieren und Dringlichkeiten festzulegen, bedarf es einer Priorisierung von Indikationen und Maßnahmen. Auch eine Rationierung ist nicht per se ethisch problematisch, wenn sie sich aufgrund begrenzter Ressourcen und nach angemessenen Bemühungen um Rationalisierung sowie weiteren politischen Aufgaben nicht vermeiden lässt. Dennoch gewinnt eine

Der Begriff der Priorisierung im Gesundheitswesen ist von dem der Rationierung zu unterscheiden. Priorisierung bezeichnet ein Verfahren, mit dem die Vorrangigkeit bestimmter Erkrankungen, Patientengruppen oder medizinischer Maßnahmen vor anderen festgestellt wird. Das ist ein gedanklicher Prozess, der eine Ordnung und Gewichtung beinhaltet [20, 21]. Priorisierung führt zu einer Rangreihe, in der oben steht, was besonders wichtig ist und unten, was weniger wichtig ist oder für verzichtbar gehalten wird. Dieses Verständnis von Priorisierung ist unabhängig von de facto verfügbaren Ressourcen und sollte daher auch nicht mit Rationierung verwechselt oder gleichgestellt werden. Eine Beschreibung der Herausforderungen und Ansprüche an gerechte Priorisierungsverfahren und zugrunde liegende Priorisierungskriterien ist in diesem Beitrag nicht vorgesehen. Diese ist u. a. in den themenbezogenen Stellungnahmen der Zentralen Ethikkommission bei der Bundesärztekammer (ZEKO) und des Deutschen Ethikrats zu finden [22, 23]. Besondere Herausforderungen bei der Beratung zu ärztlicher Rationierung durch klinische Ethikkomitees beschreiben Strech et al. [24].

Reduzierung von Überversorgung als Legitimation des Rationierungsdiskurses Insbesondere aus den Reihen der GKV wird auf das seit langer Zeit und weiterhin prävalente Phänomen von Überversorgung im deutschen System und seine Diskordanz zur Rationierungsdebatte hingewiesen [25]. Die letzten zwei Bundesgesundheitsminister sagten zum Thema Rationierung, man sei „nicht bereit diese Diskussion zu führen“ (Rößler, 2010) und man halte diese Diskussion für „unnötig“ (Bahr, 2011), denn zunächst

D. Strech

Der Abbau von Überversorgung als Teil der ärztlichen Berufsethik. Konzeptionelle Klärung und neue Perspektive durch die Ärzteschaft angestoßene Debatte um Rationierung erst dann an Legitimität, wenn durch angemessene Bemühungen der Abbau von Überversorgung angemessen reduziert wurde. Als ein möglicher Ansatz wird die US-amerikanische Choosing-Wisely-Initiative vorgestellt. Ergänzende, vielleicht sogar effektivere ärztliche Initiativen zum Abbau von Überversorgung sind denkbar. Schlussfolgerungen.  Die deutsche Ärzteschaft bedarf einer expliziteren Verständigung nach innen und nach außen über die Angemessenheit der bisherigen Aktivitäten zum Abbau von Überversorgung und zum Bedarf weiterer Aktivitäten. Diese Aufgabenbereiche sollten von der Ärzteschaft primär im Sinne einer verbesserten Patientenversorgung und erst sekundär im Sinne wirtschaftlichen Handelns verstanden werden. Schlüsselwörter Deutsche Ärzteschaft · Rationalisierung · Ökonomische Entwicklung · Kostenkontrolle · Kosten im Gesundheitswesen

Avoidance of overuse as an integral part of medical professionalism. Conceptual analysis and new perspective Abstract Background.  The topics of rationing and priority setting have been increasingly discussed over the past 5 years in Germany by physicians together with other health care stakeholders. The topic of overuse, however, has not been discussed with similar intensity and publicity. Objectives.  This analysis paper outlines the relationships and differences between efficiency, priority setting, and rationing. Furthermore, it argues why and how German physicians should address the topic of overuse with more transparency and intensity. Discussion.  Efforts of physicians to rationalize health care mainly comprise efforts to decrease overuse. The identification of important areas of overuse includes the prioritization of indications and medical interventions. Rationing health care can be unavoidable, for example, because other strategies such as rationalization, price regulation or disinvestments are not sufficient to avoid scarcity of financial resources. In such a case, rationing health care is unavoidable and, therefore,

cannot be unethical per se. However, the debate on rationing becomes more legitimate if physicians demonstrate sufficient efforts to reduce overuse sufficiently. The Choosing Wisely initiative in the USA is outlined as one interesting option of how physicians could demonstrate and prove such efforts. Additional and more effective strategies to decrease overuse might be possible. Conclusion.  German physicians demand a more explicit communication within their communities and together with other stakeholders on the appropriateness of existing and potential future activities to decrease overuse. Such initiatives to avoid and decrease overuse should primarily be motivated through the ethical principle of beneficence, while the effect of cost containment should be considered as a welcomed side effect. Keywords General practitioners · Health care rationing · Economic development · Cost control · Health care costs

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Beiträge zum Themenschwerpunkt müsse man und könne auch die Versorgung durch Rationalisierung verbessern. Zugespitzt könnte die Rückmeldung von Politik und GKV an die Ärzteschaft auch so formuliert werden: Ist es nicht unethisch, aufgrund begrenzter finanzieller Ressourcen in der GKV bestimmte nützliche medizinische Leistungen vorzuenthalten (zu rationieren), wenn doch zugleich an anderer Stelle im GKV-System durch Überversorgung Ressourcen von Ärzten ineffizient verwendet werden? D Wie kann Rationierung legitimiert

werden bei zugleich bedeutsamer Überversorgung im GKV-System? Die deutsche Ärzteschaft hat bislang keine Stellungnahmen dazu veröffentlicht, wie Rationierung und Überversorgung, also unzureichende Rationalisierung, in Einklang zu bringen sind. Im Gegensatz wies die Bundesärztekammer im Mai 2008 in ihrem Ulmer Papier öffentlichkeitswirksam darauf hin, dass Rationierung gegenwärtig stattfinde und durch Rationalisierungen allein nicht zu verhindern sei [13]. Zwar ist es sehr wahrscheinlich richtig, dass durch Rationalisierung eine Rationierung nicht allein zu verhindern ist. Dies befreit aber nicht von einer Erklärung, ob gegenwärtig ausreichend Bemühungen der Ärzteschaft unternommen werden, um unnötigen Ressourcenverbrauch im Sinne einer Überversorgung (in Zeiten von bereits existierender Rationierung) angemessen zu reduzieren. Zugespitzt wäre zu fragen: Kann die sich selbst verwaltende Ärzteschaft mit ihren zurückliegenden und aktuellen Bemühungen zur Reduzierung von Überversorgung zufrieden sein? Ergänzend wäre zu fragen: Können die Patienten mit diesen Bemühungen zufrieden sein? An dieser Stelle möchte ich mit Nachdruck darauf aufmerksam machen, dass durch die Thematisierung von ärztlicher Überversorgung in Zeiten von ärztlicher Rationierung nicht ein Generalverdacht unlauteren Verhaltens für die gesamte Ärzteschaft entstehen soll. Zum einen betrifft ärztliche Überversorgung einige Bereiche bzw. individuelle Ärzte mehr und andere weniger. Zum anderen kann Überversorgung häufig un-

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bewusst und v. a. auch unbeabsichtigt geschehen. Weiterhin gibt es für einige Bereiche kontroverse Diskussionen darüber, ob die Durchführung einer bestimmten medizinischen Maßnahme nun als indizierte, patientenorientierte Versorgung oder als Überversorgung klassifiziert werden soll [26]. Dass es aber Überversorgung gibt und dass diese primär diskutiert werden muss, wenn im System bereits rationiert wird, darf nicht verschwiegen werden. Dieses Thema ist bereits in der Öffentlichkeit angekommen. Das zeigen Berichte und Titelthemen der letzten Jahre in den öffentlichen Medien. Durch jüngere Publikationen der WHO und des US-amerikanischen Institute of Medicine (IOM) kursieren Daten, die besagen, dass etwa 30% der in internationalen Gesundheitswesen ausgegebenen finanziellen Mittel als Ressourcenverschwendung („waste“) deklariert werden müssen [1, 27]. Auch wenn diese Zahlen in ihrem Umfang und in ihrer Übertragbarkeit auf das deutsche System kritisch diskutiert werden sollten, erscheint es doch plausibel, dass in Deutschland durch mehr Bemühungen zur Rationalisierung ebenfalls einige (bedeutsame) Ressourcenanteile eingespart werden könnten [2]. Es wäre auch Aufgabe der Politik und der GKV bestmöglich und transparent darzustellen, wie bedeutsam denn die Überversorgung und das nichtwirtschaftliche Verhalten durch die Ärzteschaft sind. Weiterhin sollten systembedingte Fehlanreize zur Überversorgung bzw. nicht sinnvolle Mengenausweitungen kritisch und objektiv analysiert werden (Stichwort: Investitionsstau im Krankenhausbereich).

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Ineffiziente Ressourcenverwendung sollte angemessen reduziert werden Mit Bezug auf die oben beschriebene Problematik der Überversorgung lautet eine Kernthese, die im Folgenden noch weiter erläutert wird: Ärztliche Rationierung erhält ihre Legitimation prinzipiell erst dann, wenn sich die Selbstverwaltung angemessen bemüht, die ineffiziente Res-

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sourcenverwendung (insbesondere durch Überversorgung) in angemessenem Umfang zu reduzieren. Diese These ist mit der zweifachen Verwendung von angemessen absichtlich allgemein gehalten. Zur Erläuterung müssen zunächst einige Vorannahmen geklärt werden. Zum einen geht diese These davon aus, dass Überversorgung nicht vollständig, sondern nur angemessen, reduziert werden kann. Weiterhin geht diese These davon aus, dass trotz aller bestehender Kontroversen über die Effektivität und Effizienz von medizinischen Maßnahmen, nachvollziehbare und breit von der Ärzteschaft zu konsentierende Entscheidungen darüber getroffen werden können, welche Maßnahme in welcher Situation als Überversorgung bezeichnet werden kann. Neben diesen beiden Vorannahmen weist der Autor darauf hin, dass die Selbstverwaltung stets nur versuchen kann, Überversorgung auf Seiten individueller Ärzte zu reduzieren. Der Hintergrund und die Vorannahmen zu dieser These wurden an anderer Stelle ausführlicher beschrieben [28]. Hier sei in gekürzter Form erläutert, wie Bemühungen, ineffiziente Ressourcenverwendung zu reduzieren, als angemessen beurteilt werden können: Die Selbstverwaltung könnte sich z. B. transparente Ziele zur Reduktion von Überversorgung für bestimmte Maßnahmen in konkreten Zeiträumen setzen („benchmarks of efficiency“ [28]). Ob diese Bemühungen angemessen sind, lässt sich daran messen, inwieweit diese Benchmarks erreicht werden.

Choosing-Wisely-Initiative Ein möglicherweise auch für Deutschland beachtenswerter Ansatz zur deutlich expliziteren Thematisierung von Überversorgung kann in der US-amerikanischen Initiative Choosing Wisely der ABIM (American Board of Internal Medicine) Foundation nachvollzogen werden [29]. In diesem Projekt haben sich eine große und zunehmend wachsende Anzahl amerikanischer Fachgesellschaften jeweils auf 5 Maßnahmen in ihrem Fach verständigt, in denen eine Reduzierung der Überversorgung notwendig ist, die sogenannte Top-5-Listen. Als Bei-

spiel sind im Folgenden die Maßnahmen aus der online publizierten Top-5-Liste der American Geriatrics Society genannt [30]: F „Don’t recommend percutaneous feeding tubes in patients with advanced dementia; instead offer oral assisted feeding.“ F „Don’t use antipsychotics as first choice to treat behavioral and psychological symptoms of dementia.“ F „Avoid using medications to achieve hemoglobin A1c

[Avoidance of overuse as an integral part of medical professionalism. Conceptual analysis and new perspective].

The topics of rationing and priority setting have been increasingly discussed over the past 5 years in Germany by physicians together with other healt...
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