FORTBILDUNG _ SCHWERPUNKT

Prof. Dr. med. Klaus G. Parhofer Klinikum der Universität München Medizinische Klinik und Poliklinik II – Großhadern, München

Individuelle Nutzen-Risiko-Abwägung

© Juanmonino / iStock

Brauchen alle Diabetiker Aspirin und Statine? Die Prognose von Diabetikern hat sich in den letzten Jahrzehnten deutlich verbessert. Hierzu haben Präventionsmaßnahmen wie Lipidsenkung, Blutdruckeinstellung, Blutzuckeroptimierung und Thrombozytenaggregationshemmung entscheidend beigetragen. Dennoch sollten Sie im Einzelfall abwägen, ob Statine und/oder Aspirin indiziert sind.



Die Rate an Atherosklerosekomplikationen hat sich bei Patienten mit Diabetes mellitus in den letzten 20 Jahren deutlich verringert. Eine aktuelle Auswertung zeigt, dass sich bei Diabetikern das Risiko für einen Myokardinfarkt (–67,8%) und für einen Schlaganfall (–52,7%) mehr als halbiert hat. Zwar sind die Herzinfarkt- und Schlaganfallraten auch bei Nicht-Diabetikern gesunken, jedoch nicht im gleichen Ausmaß [1]. Auch wenn eine Reihe von Veränderungen für diese Beobachtung verantwortlich ist, ist die Prognoseverbesserung v. a. auf bessere Präventionsmaßnahmen zurückzuführen. Hierbei spielen der Rückgang des Rauchens, bessere Blutdruck- und Blutzuckereinstellung, Lipidsenkung und Plättchenaggregationshemmung eine wichtige Rolle. Datenlage und Empfehlungen zur Lipidsenkung Es gibt überzeugende Daten, dass das relative Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen durch LDL-Senkung (insbesondere mit Statinen) unabhängig vom Risiko oder anderen Ausgangsfaktoren (Alter,

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Geschlecht, Begleiterkrankungen, Lipidwerte) gesenkt werden kann [2]. Die Reduktion des Absolutrisikos und „Number Needed to Treat“ hängt jedoch erheblich vom Ausgangsrisiko ab: Der Nutzen ist umso größer, je höher das Absolutrisiko ist. Gleichzeitig muss bedacht werden, dass unter Statinen bei ca. 10% Nebenwirkungen (Myopathie, Leberwerterhöhung, gering erhöhtes Diabetesrisiko) auftreten. Gut belegt ist, dass Diabetiker von einer statinbasierten LDL-Cholesterinsenkung genauso profitieren wie Nicht-Diabetiker [3]. Bei Diabetikern und NichtDiabetikern beträgt die relative Risikoreduktion für kardiovaskuläre Ereignisse 22–23% für jedes mmol/l LDL-Cholesterinsenkung (ca. 39 mg/dl LDL-Cholesterinsenkung). Da das Absolutrisiko bei Diabetikern höher ist, übersetzt sich die gleiche relative Risikoreduktion in eine größere Anzahl verhinderter Ereignisse. Inzwischen ist auch erwiesen, dass das Ausmaß der LDL-Senkung der entscheidende Faktor ist, sodass bei nicht ausreichender Senkung unter Statinen eine Kombination mit Ezetimib erfolgen sollte – auch deshalb, weil in der (noch

nicht endgültig publizierten) IMPROVEIT-Studie gezeigt werden konnte, dass Diabetiker von der Kombination besonders zu profitieren scheinen (vorgestellt auf dem Kongress der American Heart Association, November 2014). Die europäischen Fachgesellschaften haben deshalb für Diabetiker mit hohem Risiko (z. B. Diabetiker mit nachgewiesener Atherosklerose, Diabetiker mit zusätzlichen Risikofaktoren oder Diabetiker mit Endorganschäden) einen LDLCholesterin-Zielwert < 70 mg/dl (1,8 mmol/l) definiert. Für Diabetiker ohne diese zusätzlichen Faktoren liegt er bei < 100 mg/dl (2,6 mmol/l) [4]. Die amerikanischen Fachgesellschaften wählen einen etwas anderen Ansatz und schlagen vor, dass alle Diabetiker über 40 Jahre in Abhängigkeit vom Absolutrisiko entweder mit einer moderaten Dosis Statin (z. B. Atorvastatin 20 mg/d oder Simvastatin 40 mg/d) oder einer hohen Dosis Statin (z. B. Atorvastatin 80 mg/d) behandelt werden [5]. Die Empfehlungen der beiden Fachgesellschaften unterscheiden sich in der Praxis kaum. Während die Amerikani-

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Tabelle 1

Lipidsenkung: Klinisch-praktisches Vorgehen (entsprechend den europäischen Empfehlungen [4]) Zielwert LDL- Statin Cholesterin Diabetiker ohne AS und weitere Risikofaktoren*

< 100 mg/dl; < 2,6 mmol/l

erwägen

Diabetiker ohne AS mit zusätzlichen Risikofaktoren

< 70 mg/dl; < 1,8 mmol/l

ja

Diabetiker mit AS

< 70 mg/dl; < 1,8 mmol/l

ja

Kommentar

− − − − −

Bei Personen < 40 Jahre und Personen > 75 Jahre unklare Datenlage, daher individuelle Entscheidung Zielwert umstritten; je nach Gesamtrisiko individuell abwägen, ob < 100 mg/dl (< 2,6 mmol/l) oder < 70 mg/dl (< 1,8 mmol/l) Möglicherweise noch niedrigerer Zielwert günstig; wenn Statin nicht ausreichend, Kombination mit Ezetimib, um LDL-Ziel zu erreichen Statin auch, wenn Ausgangs-LDLCholesterin niedrig (< 70 mg/dl) Bei kombinierter Fettstoffwechselstörung zusätzliche Medikation zur Triglyzeridsenkung (Fibrat und/oder Omega-3-Fettsäuren) erwägen

* Zusätzliche Risikofaktoren: Positive Familienanamnese für Atheroskleroseerkrankungen, Nikotinabusus, Hypertonus, Hypertriglyzeridämie, HDL-Cholesterinerniedrigung. AS = Atherosklerose

Tabelle 2

Thrombozytenaggregationshemmer (Aspirin) bei Diabetikern

Nach ADA [9]

Aspirin

Kommentar

Diabetiker ohne AS und nein ohne weitere Risikofaktoren*

Blutungsrisiko übertrifft möglichen Nutzen

Diabetiker ohne AS, mit kann zusätzlichen Risikofaktoren* erwogen werden

Abhängig vom Risiko: wenn 10-JahresRisiko > 10%, Aspirineinsatz empfohlen (trifft vor allem auf ältere Patienten zu)

Diabetiker mit AS

Klare Indikation; doppelte Thrombozytenaggregationshemmung, ähnlich wie bei Nicht-Diabetikern (z. B. nach Intervention)

ja

* Zusätzliche Risikofaktoren: Positive Familienanamnese für Atheroskleroseerkrankungen, Nikotinabusus, Hypertonus, Hypertriglyzeridämie, HDL-Cholesterinerniedrigung. AS = Atherosklerose

schen Fachgesellschaften keinen Unterschied zwischen Typ-1- und Typ-2-Diabetikern machen, beziehen sich die Europäischen Empfehlungen v. a. auf Typ2-Diabetiker. Bei Typ-1-Diabetikern ohne Atherosklerose werden Statine nur bei Nephropathie empfohlen. Das von uns praktizierte Vorgehen orientiert sich stark an den europäischen Empfehlungen (Tab. 1). Bei Diabetikern mit sehr großem kardiovaskulären Risiko (mit nachgewiesener Atherosklerose oder zusätzlichen Risikofaktoren) sollte ein möglichst niedriger LDL-Cholesterinspiegel (< 70 mg/dl; < 1,8 mmol/l) an-

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gestrebt werden durch die Gabe eines Statins, ggf. in Kombination mit Ezetimib. Nach neueren Daten scheint sogar eine noch weitere Absenkung sinnvoll. Wann sollten Sie Thrombozytenaggregationshemmer verordnen? Durch Aspirin kann die atheroskleroseassoziierte Morbidität und Mortalität bei hohem kardiovaskulären Risiko gesenkt werden [6]. Bei Patienten mit geringerem Risiko (Primärprävention) ist der Nutzen weniger deutlich. Dies betrifft sowohl Patienten mit wie auch ohne Diabetes. In zwei Studien (aus Ja-

pan bzw. Europa) zur Primärprävention mit Aspirin bei Diabetikern zeigte sich sogar kein signifi kanter Abfall der kardiovaskulären Endpunkte [7, 8]. Allerdings fand sich in einer großen Metaanalyse mit 95.000 Patienten (davon 4.000 Diabetiker) eine 12%ige Risikoreduktion für kardiovaskuläre Endpunkte (v. a. nicht-tödlicher Herzinfarkt), wobei sich die kardiovaskuläre Mortalität nicht veränderte. Diese Studie zeigte auch, dass Männer etwas mehr profitieren als Frauen. Die Metaanalyse bestätigte, dass Diabetiker prinzipiell ähnlich wie Nicht-Diabetiker von Aspirin profitieren, dass aber aufgrund der geringeren Fallzahl das Ergebnis bei den Diabetikern nicht signifi kant war [6]. Gleichzeitig bestätigen alle Studien das etwas erhöhte Blutungsrisiko unter Aspirin. Es beträgt für gastrointestinale Blutungen 1–5/1000/Jahr. Damit der potenzielle Nutzen einer Thrombozytenaggregationshemmung den möglichen Schaden überwiegt, muss das Absolutrisiko ausreichend hoch sein. Thrombozytenaggregationshemmer (z. B. Aspirin) sollten deshalb nur Patienten mit einem erhöhten kardiovaskulären Risiko gegeben werden. Die amerikanische Diabetesgesellschaft schlägt aktuell das in Tab. 2 aufgeführte Vorgehen vor [9], das auch von uns praktiziert wird. Literatur unter mmw.de Anschrift des Verfassers: Prof. Dr. med. Klaus G. Parhofer, Klinikum der Univ. München, Med. Klinik und Poliklinik II – Großhadern, Marchioninistraße 15, D-81377 München, E-Mail: Klaus.Parhofer@ med.uni-muenchen.de

Aspirin und Statine bei Diabetes

Fazit für die Praxis 1. Je höher das Absolutrisiko für ein kardiovaskuläres Ereignis ist, desto eher ist die Indikation für eine Statinund Aspirintherapie gegeben.

2. Die individuelle Nutzen-RisikoAbwägung steht im Vordergrund.

Keywords Aspirin and statins for every diabetic? Statin – antiplatelet – aspirin

MMW-Fortschr. Med. 2015; 157 (8)

Literatur 1. Gregg EW, Li Y, Wang J, Burrows NR, Ali MK, Rolka D, et al. Changes in diabetes-related complications in the United States, 19902010. N Engl J Med. 2014;370:1514-23. 2. Mihaylova B, Emberson J, Blackwell L, Keech A, Simes J, Barnes EH, et al. The effects of lowering LDL cholesterol with statin therapy in people at low risk of vascular disease: metaanalysis of individual data from 27 randomised trials. Lancet. 2012;380:581-90. 3. Kearney PM, Blackwell L, Collins R, Keech A, Simes J, Peto R, et al. Efficacy of cholesterollowering therapy in 18,686 people with diabetes in 14 randomised trials of statins: a meta-analysis. Lancet. 2008;371:117-25. 4. Reiner Z, Catapano AL, De Backer G, Graham I, Taskinen MR, Wiklund O, et al. ESC/EAS Guidelines for the management of dyslipidaemias: the Task Force for the management of dyslipidaemias of the European Society of Cardiology (ESC) and the European Atherosclerosis Society (EAS). Eur Heart J. 2011;32:1769-818. 5. Stone NJ, Robinson J, Lichtenstein AH, Merz CN, Blum CB, Eckel RH, et al. 2013 ACC/AHA Guideline on the Treatment of Blood Cholesterol to Reduce Atherosclerotic Cardiovascular Risk in Adults: A Report of the American College of Cardiology/American Heart Association Task Force on Practice Guidelines. Circulation. 2013. 6. Baigent C, Blackwell L, Collins R, Emberson J, Godwin J, Peto R, et al. Aspirin in the primary and secondary prevention of vascular disease: collaborative meta-analysis of individual participant data from randomised trials. Lancet. 2009;373:1849-60. 7. Belch J, MacCuish A, Campbell I, Cobbe S, Taylor R, Prescott R, et al. The prevention of progression of arterial disease and diabetes (POPADAD) trial: factorial randomised placebo controlled trial of aspirin and antioxidants in patients with diabetes and asymptomatic peripheral arterial disease. BMJ. 2008;337:a1840. 8. Ogawa H, Nakayama M, Morimoto T, Uemura S, Kanauchi M, Doi N, et al. Low-dose aspirin for primary prevention of atherosclerotic events in patients with type 2 diabetes: a randomized controlled trial. JAMA. 2008;300:2134-41. 9. 8. Cardiovascular Disease and Risk Management. Diabetes Care. 2015;38:S49-S57.

[Aspirin and statins for every diabetic?].

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