Originalien Z Gerontol Geriat 2014 DOI 10.1007/s00391-014-0820-9 Eingegangen: 3. September 2013 Überarbeitet: 28. August 2014 Angenommen: 5. September 2014

Christin Löffler1 · Attila Altiner1 · Waldemar Streich2 · Carl-Otto Stolzenbach3 · Angela Fuchs2 · Eva Drewelow1 · Anne Hornung1 · Gregor Feldmeier1 · Hendrik van den Bussche3 · Hanna Kaduszkiewicz4

© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014

3 Institut für Allgemeinmedizin, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Hamburg, Deutschland

1 Institut für Allgemeinmedizin, Universitätsmedizin Rostock, Rostock, Deutschland 2 Institut für Allgemeinmedizin, Heinrich-Heine-Universität, Düsseldorf, Deutschland

4 Institut für Allgemeinmedizin, Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Kiel, Deutschland

Multimorbidität aus Hausarztund Patientensicht Qualitative Studie Hintergrund und Fragestellung Chronische Erkrankungen und Multimorbidität haben in den vergangenen Jahrzehnten stark an Bedeutung gewonnen. Dabei ist die Behandlung von Patienten mit Multimorbidität für Hausärzte eine Herausforderung: Leitlinien, die jeweils einzelne Erkrankungen im Fokus haben, können bei diesen Patienten nicht umfassend und „gleichberechtigt“ Anwendung finden, weil dies den Patienten gefährden könnte [3]. Um die Versorgung von Patienten mit chronischen Erkrankungen zu optimieren, haben Wagner et al. [18, 19] das „chronic care model“ entwickelt. Im Mittelpunkt des Modells stehen die von Arzt und Patient gemeinsam durchgeführte Problemdefinition, die gemeinsame Zielsetzung der Behandlung, das kontinuierlich stattfindende Selbstmanagementtraining mit fortwährenden Unterstützungsangeboten sowie regelmäßig stattfindende Folgeuntersuchungen, deren Inhalt auf Evidenz basieren. Eine zielführende Arzt-PatientKommunikation wird hier als wichtigste Voraussetzung der effektiven Behandlung von Patienten mit chronischen Erkrankungen gesehen. Studien zeigen jedoch, dass die Art und die Tiefgründigkeit der Arzt-PatientKommunikation stark durch die Eigenschaften der Gesprächspartner sowie das Gesprächsverhalten von Arzt und Patient beeinflusst werden: Proaktive Patienten erhalten vom behandelnden Arzt insge-

samt mehr Informationen, Unterstützung und Rückversicherung [1, 7, 8, 16, 17, 20]. Beziehen Ärzte den Patienten in die medizinische Entscheidungsfindung ein („shared decision making“), steigert dies nicht nur die Patientenbeteiligung, sondern hat positiven Einfluss auf Patientenzufriedenheit sowie Adhärenz und verbessert zudem den allgemeinen Gesundheitszustand der Patienten [1, 8, 16, 17]. Trotz zunehmender Prävalenz von Multimorbidität ist das Wissen über die Entscheidungsfindung zwischen Hausärzten und Patienten mit Multimorbidität erstaunlich gering [5, 9]. Vorherige Studien machen deutlich, dass Patienten v. a. fehlende Kommunikation mit ihren Ärzten und geringe Unterstützung in Entscheidungsprozessen ebenso wie einen Mangel an Koordination und Kontinuität in der Behandlung ihrer Erkrankungen beklagen [6, 10]. Aus hausärztlicher Sicht erschweren Zeitmangel, Schwierigkeiten in der interprofessionellen Kommunikation und eine fragmentierte medizinische Versorgung den Umgang mit Multimorbidität [14]. Mangelnde Kontinuität in der Behandlung wird als größte Herausforderung wahrgenommen [2, 13, 15]. Heute und v. a. auch zukünftig werden Konzepte benötigt, die den Hausarzt bei der Behandlung von Patienten mit Multimorbidität unterstützen. Vor diesem Hintergrund wird in der vorliegenden qualitativen Studie herausgearbeitet, wie Hausärzte und ihre Patienten den Herausforderungen, die mit Multimorbidität

einhergehen, begegnen und welche Prioritäten sie jeweils setzen. Im Mittelpunkt stehen erstmals beide Perspektiven: die des Hausarztes und die seines Patienten. Diese dyadische, gegenüberstellende Herangehensweise wird in der Medizin und der Gesundheitsforschung insgesamt bislang nur selten angewendet. Die hier vorgestellte Studie ist Teil des Verbundvorhabens „Komorbidität und Multimorbidität in der hausärztlichen Versorgung“ („MultiCare“, [21]).

Studiendesign und Untersuchungsmethoden Studiendesign Mit 9 Hausärzten und 19 ihrer Patienten wurden narrative Interviews zum Umgang mit Multimorbidität geführt. Narrative Interviews zeichnen sich durch offene Erzählaufforderungen und aktives Zuhören aus. Dies motiviert den Interviewpartner, selbstständig seine Geschichte zu erzählen. Erst im Anschluss an diesen narrativen Teil stellt der Interviewer ggf. externe Nachfragen [4]. Es wurden Hausärzte und jeweils 2 ihrer Patienten mit Multimorbidität einbezogen. Die Hausärzte wurden einmalig interviewt und gebeten, nacheinander über beide Patienten zu sprechen. Interviewt wurden Ärzte und Patienten aus Hamburg sowie aus verschiedenen urbanen und suburbanen Städten in Nordrhein-Westfalen. Die Rekrutierung der Ärzte fand über die beste-

Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie X · 2014 

| 1

Originalien henden Lehr- und Forschungsnetzwerke der Institute für Allgemeinmedizin des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf und des Universitätsklinikums Düsseldorf statt. Insgesamt wurden 10 Hausärzte angesprochen; hiervon nahmen 9 an der Studie teil. Diese wurden gebeten, eine Liste aller Patienten zu erstellen, die zwischen 65 und 85 Jahre alt waren und an mindestens 3 chronischen Erkrankungen litten. Mindestens eine dieser Erkrankungen sollte den Bewegungsapparat betreffen. Außerdem sollten die Patienten den Hausarzt mindestens einmal innerhalb der letzten 3 Monate konsultiert haben. Ziel war es, Patienten mit einem gewissen Mindestmaß an gesundheitsbezogenen Beeinträchtigungen und Einschränkungen interviewen zu können. Aus den erstellten Listen wurden Patienten per Zufall ausgewählt und um ein Interview gebeten. Eine mögliche Verzerrung in der Auswahl der Patienten sollte damit vermieden werden.

„Sample“-Beschreibung Die Interviews wurden zwischen November 2008 und März 2009 durchgeführt. Eine Datensättigung war nach 21 Interviews (mit 7 Hausärzten und jeweils 2 ihrer Patienten) erreicht und bedeutet, gemäß Corbin und Strauss [4], dass sich aus den zuletzt durchgeführten Interviews keine neuen Erkenntnisse ergaben, während sich gleichzeitig bereits bekannte Themenkomplexe wiederholten. Dennoch wurden 2 weitere Hausärzte sowie 5 Patienten interviewt, da Termine bereits vereinbart waren. Interviewt wurden insgesamt 4 Hausärzte und 5 Hausärztinnen. Das durchschnittliche Alter der Ärzte betrug 52 Jahre. Es wurden 6 männliche und 13 weibliche Patienten befragt. Der Altersdurchschnitt der Patienten betrug 75 Jahre. Der sozioökonomische Status der teilnehmenden Patienten erwies sich als relativ homogen: Sieben Patienten hatten die Volksschule besucht, jedoch keine Lehre absolviert. Acht Patienten hatten eine abgeschlossene Lehre (einige von ihnen hatten keinen Volks- bzw. Hauptschulabschluss). Vier Patienten hatten einen Realschulabschluss und eine Lehre absolviert. Die meisten Patienten waren verheiratet, 2 waren geschieden und 6 waren verwit-

wet. Die Kinderzahl reichte von 0 bis 5, mit einem Median von 2 Kindern. Die teilnehmenden Patienten waren vorwiegend an Hypertonie, chronischer Herzinsuffizienz, Diabetes mellitus Typ 2, chronisch-obstruktiver Lungenerkrankung (COPD), Osteoarthritis und Depression erkrankt. Die Patienten waren zwischen 5 und 20 Jahren bei ihrem Hausarzt in Behandlung. Der Durchschnitt betrug hier 13 Jahre.

Datenauswertung Alle Interviews wurden tonaufgezeichnet und wortwörtlich transkribiert. Die Auswertung der Daten erfolgte in einem multidisziplinären Team, das aus Medizinern, Soziologen und Gesundheitswissenschaftlern bestand. Dazu wurden sowohl Memos als auch zusammenführende Metamemos verfasst und regelmäßig diskutiert. Letztere zielten darauf ab, Inhalte der Patienteninterviews mit denen des dazugehörigen Hausarztinterviews zu vergleichen. Die Anaylse des Materials erfolgte inhaltsanalytisch [11]. Dazu wurde das gesamte Datenmaterial mithilfe der Computersoftware Nvivo 9 codiert. Einzelne Codes wurden anschließend Kategorien zugeordnet. Um den Umgang mit Multimorbidität analysieren zu können, wurde zunächst jede Dyade (bestehend aus einem Hausarzt und einem Patienten) einzeln betrachtet. Beide Sichtweisen wurden einander gegenübergestellt. Erst im letzten Analyseschritt wurden die verschiedenen Dyaden miteinander verglichen. Insgesamt wurde das Datenmaterial mit 289 Codes versehen. Ein Code konnte mehreren Interviewpassagen aus einem oder mehreren Interviews zugeordnet werden. Die mit Blick auf die Forschungsfrage wichtigsten Kategoriesysteme umfassen die beiden Kategorien „patientenseitige Wahrnehmung“ und „arztseitige Wahrnehmung“. Der Kategorie „ patientenseitige Wahrnehmung“ sind beispielsweise die Codes „Umgang des Patienten mit Erkrankungen“, „Konsequenzen der Erkrankungen“, „Arzt-Patient-Beziehung aus Patientensicht“, „Erfahrungen mit spezialisierten Fachärzten“, „Zufriedenheit mit dem Hausarzt“ u. a. zugeordnet. Zur Kategorie „arztseitige Wahrnehmung“ zählen z. B. „Arzt-Patient-Kon-

2 |  Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie X · 2014

takt“, „Arzt-Patient-Beziehung aus Hausarztsicht“, „arztseitige Lücken der Patientenagenda“ oder auch „hausärztliches Engagement“. Alle Codes wurden induktiv, also aus dem Material heraus, vergeben.

Ergebnisse Die Mehrzahl der interviewten Patienten fühlte sich durch ihren Hausarzt generell gut oder sehr gut betreut. Dennoch stellten sich die Prioritäten der Hausärzte und die ihrer Patienten häufig völlig unterschiedlich dar. Die folgenden Ausschnitte stammen aus einem Interview, in dem sich dies schon auf vordergründiger Ebene zeigt. Der Hausarzt, der zunächst über die Hypertonie, den Diabetes und die Gonarthrose der Patientin berichtet, resümiert: Hausarzt (56 Jahre alt): „Ich glaube, sie geht immer ganz zufrieden nach Hause und fühlt sich eigentlich immer in ihren Beschwerden ernst genommen und behandelt, und es geht ihr auch nicht wirklich schlecht.“ Die Patientin hingegen stellt ihre Inkontinenz und den damit verbundenen Leidensdruck in den Vordergrund; ein Leiden, das von dem Hausarzt im gesamten Interview nicht angesprochen wurde. Die Agenda der Patientin ist insbesondere durch Einschränkungen in ihren alltäglichen Aktivitäten geprägt: Patientin (74 Jahre alt, u. a. erkrankt an Hypertonie, Typ-2-Diabetes, Gonarthrose, Inkontinenz): „Weil ich eigentlich Angst habe, eine Urlaubsreise zu machen. Also wegfliegen sowieso nicht mehr, aber wir würden gerne manche Bustour machen. Eine Art Tagestour, was Schönes sehen, und da hab ich eigentlich keinen Mut zu, weil für mich immer der Blick ist, wo ist ein WC … Also diese Sache, wenn das bereinigt werden könnte, dann wäre ich der glücklichste Mensch … Wenn der Doktor auch zu mir gesagt hat, das haben Millionen andere, aber darum muss ich es ja nicht auch haben, ne.“ Tatsächlich hat die Patientin aufgrund des von ihr wahrgenommenen Sich-nicht-zuständig-Fühlens ihres Hausarztes für diese

Zusammenfassung · Abstract Erkrankung im Interview berichtet, jegliche Kommunikation über dieses Thema eingestellt zu haben. Stattdessen sucht sie zahlreiche spezialisierte Fachärzte auf. Der Leidensdruck der Patientin ist dem Hausarzt weder bewusst, noch kann er für Linderung oder Abhilfe sorgen. In der Folge wurde auch die Kommunikation zwischen Arzt und Patientin chronisch: Beide sprechen über einen Teil der bestehenden gesundheitlichen Probleme. Das für die Patientin am schwersten wiegende Leiden wird von ihr jedoch nicht mehr thematisiert. Diese sehr unterschiedliche Prioritätensetzung fand sich auch in anderen Interviews. Patienten litten dabei besonders unter denjenigen Erkrankungen und Funktionsstörungen, bei denen die medizinische Ursache schwer oder gar nicht zu diagnostizieren war bzw. bei denen die Symptome nur schwer behandelbar waren, wie z. B. Schmerzen, Schwindel, chronischer Husten oder Sehstörungen. Damit einhergehend stand bei den Patienten der unmittelbare Erhalt von Autonomie und sozialem Miteinander im Vordergrund. Die Auswertung der Daten zeigt auch, dass die interviewten Ärzte die meiste Energie auf das Management von Erkrankungen verwendeten, die zu potenziell lebensbedrohlichen Situationen führen können, wie beispielsweise Diabetes oder Hypertonie. Ein Hausarzt sagte im Interview dazu: Hausarzt (56 Jahre alt): „Auf die Herzpatienten muss man aufpassen, weil die Verschlechterung der Herzsituation unter Umständen unmerklich läuft. Eine Angina pectoris merken sie, dann geht es entweder mit 112 ins Krankenhaus oder die Leute sind hier. Aber die Gewichtszunahme, die Ödeme, die Orthopnoe, dass die anfangen, sich 2 Kissen ins Bett zu legen, die Nykturie, mit 2-, 3-mal, die blauen Lippen. Diese ganzen Situationen, wenn der linke Ventrikel schlechter wird. Das merken die erst, wenn sie im Prälungenödem sind … und das ist so wichtig bei den Herzpatienten, die zu überwachen, um Schaden von ihnen abzuwenden. Denn meine Erfahrung ist, das merken die nicht selber, weil es nicht wehtut.“

Z Gerontol Geriat 2014  DOI 10.1007/s00391-014-0820-9 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014 C. Löffler · A. Altiner · W. Streich · C.-O. Stolzenbach · A. Fuchs · E. Drewelow · A. Hornung · G. Feldmeier · H. van den Bussche · H. Kaduszkiewicz

Multimorbidität aus Hausarzt- und Patientensicht. Qualitative Studie Zusammenfassung Hintergrund.  Für Hausärzte ist die Betreuung von Patienten mit Multimorbidität eine alltägliche Herausforderung. Leitlinien, die jeweils nur einzelne Erkrankungen im Fokus haben, können hier nicht umfassend und „gleichberechtigt“ Anwendung finden. Stattdessen müssen Prioritäten gesetzt werden. Fragestellung.  Vor diesem Hintergrund wird herausgearbeitet, wie Hausärzte und ihre Patienten diesen Herausforderungen begegnen und welche Prioritäten sie jeweils setzen. Material und Methoden.  Neun Hausärzte und 19 ihrer Patienten mit Multimorbidität wurden narrativ interviewt. Die Analyse erfolgte inhaltsanalytisch. Ergebnisse.  Die Mehrzahl der interviewten Patienten fühlte sich durch ihren Hausarzt gut oder sehr gut betreut. Dennoch stellten sich die Prioritäten der Hausärzte und die ih-

rer Patienten häufig unterschiedlich dar. Während die Ärzte die meiste Energie auf das Management von Erkrankungen verwendeten, die zu potenziell lebensbedrohlichen Situationen führen können, stand bei den Patienten der unmittelbare Erhalt von Autonomie und sozialem Miteinander im Vordergrund. Diskussion.  Die Ergebnisse der Studie legen den Schluss nahe, dass die Kommunikation zwischen Hausärzten und ihren Patienten gerade in Bezug auf einen gemeinsamen Prozess der Prioritätensetzung bei Multimorbidität weiterentwickelt werden kann. Schlüsselwörter Chronische Erkrankung · Qualitative Forschung · Arzt-Patient-Beziehung · Entscheidungsfindung, partizipativ · Primärversorgung

Approaches of general practitioners and patients to multimorbidity. Qualitative study Abstract Background.  For general practioners (GP) the treatment of patients suffering from multimorbidity is an everyday challenge. For these patients guidelines which each focus on a specific chronic disease cannot be applied comprehensively and equally; therefore, it is necessary to prioritize. Objective.  Given this situation the study aimed at analyzing how GPs and patients deal with this challenge and what their priorities are. Material and methods.  Narrative interviews were conducted with 9 GPs and 19 of their multimorbid patients. The data were analyzed by means of content analysis. Results.  The majority of interviewed patients felt well or very well cared for by their GPs;

In der zitierten Passage bezieht sich der Hausarzt auf einen Patienten, der u. a. an einer koronaren Herzkrankheit (KHK) und Herzrhythmusstörungen leidet. Während der Hausarzt diesen Patienten gern regelmäßig im Rahmen des DiseaseManagement-Programms (DMP) KHK gesehen hätte, um auf ihn aufzupassen, hat dieser die Teilnahme am DMP beendet. Das Interview lässt die Interpretation

however, GPs and multimorbid patients often had relatively different priorities. Whereas GPs mostly focused on the management of diseases that could lead to life-threatening situations, patients put an emphasis on maintaining autonomy and a social life. Conclusion.  The results of this study suggest that there is room for development in the way GPs and multimorbid patients communicate with each other, particularly as far as shared priority setting is concerned. Keywords Chronic disease · Qualitative research · Physician patient relations · Decision making, shared · Primary care

zu, dass der Patient sich mit der Implantation eines Schrittmachers quasi als „geheilt“ betrachtete; die grundlegende Herzerkrankung blieb im Patienteninterview gänzlich unerwähnt: Patient (68 Jahre alt, u.  a. erkrankt an Herzrhythmusstörung, KHK, Hypertonie, Coxarthrose, Schlafapnoesyndrom): „Also ich muss ja sagen, seitdem ich die-

Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie X · 2014 

| 3

Originalien sen Herzschrittmacher hab, ne, bin ich das Problem Sterben los … Ich habe das Thema Sterben zurückgestellt, ne. Das ist jetzt für mich nicht mehr aktuell. Ich beschäftige mich nicht damit. Ich weiß, dass ich sterben muss, aber es ist; ich warte, bis ich körperlich dran bin.“ Während der Patient keine Notwendigkeit sah, seinen Hausarzt auch ohne akute Beschwerden regelmäßig zu konsultieren, hätte sich der Hausarzt genau dies gewünscht. Die Fokussierung auf potenziell lebensbedrohlich verlaufende Erkrankungen ging bei einem Teil der interviewten Hausärzte damit einher, dass sie einzelne Aspekte der patientenseitigen Agenda nicht wahrnahmen oder sogar ausblendeten. Dies wurde von einzelnen Ärzten während des Interviews reflektiert: Hausärztin (48 Jahre alt): „Wahrscheinlich hat sie [noch] andere Beschwerden und andere Probleme, die sie mit mir nicht besprochen hat. Aber wir arbeiten so, dass wenn der Patient kommt und über irgendwelche Beschwerden klagt, dann arbeiten wir in diese Richtung; nicht weiter, ne. Also das geht, glaube ich nicht, dass ich mehr Fragen stelle, als die Patientin dann selbst erzählt. Ja, kann sein, dass sie noch mehr Probleme hat, als ich dann frage. Kann sein.“ Im Interview vergegenwärtigte sich die Hausärztin, dass die COPD der Patientin fast immer im Mittelpunkt der hausärztlichen Konsultationen stehe; über andere Erkrankungen der Patientin, wie z. B. die Osteoporose, die Coxarthrose oder den chronischen Rückenschmerz, werde weitaus seltener gesprochen. Das Patienteninterview macht deutlich, dass sich diese Patientin dennoch gut betreut fühlte. Es ist zu vermuten, dass dies in engem Zusammenhang mit der Teilnahme am DMPCOPD steht: Die Hausärztin betonte, dass sich der Arzt-Patient-Austausch insbesondere zur COPD seit der Teilnahme am DMP deutlich verbessert habe, aber dennoch fast ausschließlich auf diese Erkrankung fokussiert bliebe: Hausärztin (48  Jahre alt): „Dank dieses Programms mit Asthmapatienten kriege ich ja Frau A. jetzt regelmäßig in die Pra-

xis, ohne Beschwerden oder so, zur Kontrolle. Asthma hat sie schon so lange, aber früher ist sie nie wegen Asthma zu uns gekommen, nur Rezept bekommen und so weiter, aber nicht freiwillig zur Kontrolle … wenn ich mehr Zeit hätte, dann [könnten wir] wahrscheinlich ein bisschen mehr andere, andere Sachen mal besprechen, als nur die Luftnot, die gesamte Gesundheitssituation oder seelische Probleme, vielleicht dann doch, wahrscheinlich, ja.“ Hier deutet sich an, was an anderer Stelle bereits als Tyrannei des Dringlichen beschrieben wurde [12]. Ebenso zeigt die Hausärztin auf, wie Änderung herbeigeführt werden könnte: fragen und erzählen lassen. Eine unterschiedliche arzt- und patientenseitige Wahrnehmung zeigte sich auch in Bezug auf das Thema Medikation. Die überwiegende Mehrheit der interviewten Ärzte war davon überzeugt, dass ihre Patienten mit gewissen Einschränkungen gut mit ihrer Medikation zurechtkämen. Obwohl dies tatsächlich auf viele Patienten – zumindest in ihrem subjektiven Erleben – zutraf, zeichneten sich bei einigen Patienten erhebliche Schwierigkeiten ab. Folgendes Beispiel soll dies zeigen: Hausärztin (42 Jahre alt): „Hmm, also bei ihr hält sich das halbwegs … 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7 Sachen bekommt sie … Und da ist sie eigentlich auch so eine beispielhafte Patientin, dass sie nicht so viel mit mir verhandelt.“ Patientin (77 Jahre alt, u. a. erkrankt an Asthma, KHK, Hypertonie, Depression und Gonarthrose): „Ich hatte Bluthochdruck, also der Blutdruck war zu hoch, da muss ich Medikamente nehmen. Dann hab ich ja für die, für das Asthma erstmal Spray gehabt, und das Spray konnte ich nicht ab, das hab ich ja von dem jungen Arzt in Bergedorf1 bekommen, und das kann ich nicht ab, und dann hab ich schließlich Tabletten bekommen, die Pillen, was ich gestern Ihnen gezeigt hab. Ne, ja und was war das noch? Bluthochdruck und… [wühlt in der Tasche]. Ich hab hier den Plan. Ich hab hier den Plan. Da muss ich Alginsäure für den 1 

4 |  Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie X · 2014

Städtenamen wurden pseudonymisiert.

Magen muss ich auch nehmen. Da muss ich abends also nur abends eine nehmen, und die Amlodipin muss ich morgens nehmen und die ASS [Acetylsalicylsäure; Anm. d. Verf.] eine morgens. Die Kalzium, die soll ich auch morgens nehmen, und die Nitrolingual, das ist das gegen Luft nur bei Bedarf und die anderen Omeprazol, die muss ich auch, die muss ich nachts nehmen. Aber im Moment ich, ist, ich bin, also ich mach kein … das sind so viele Tabletten, dass das geht nicht.“ Die Interviewpassage lässt die Schwierigkeiten der Patientin mit ihrem Medikationsplan offensichtlich werden. Während die Hausärztin davon ausging, dass ihre Patientin mehr oder minder regelmäßig die ihr verordneten Medikamente einnimmt, war sich diese völlig im Klaren darüber, dass sie ihren Medikamentenplan nicht umsetzten kann. Dennoch sprach sie ihre Ärztin offenbar nicht auf diese Problematik an. Rund ein Drittel der interviewten Patienten berichtete von Arzneimittelunverträglichkeiten oder Nebenwirkungen sowie von Problemen, die durch einen durch Rabattverträge bedingten Wechsel der Medikation herrührten. Einige Patienten standen Medikamenten grundsätzlich kritisch gegenüber und meinten, sie würden zu viele Arzneimittel einnehmen. Jedoch betonten mehrere Befragte, dass sie mit ihrer Medikation zufrieden seien und ihren Medikationsplan exakt einhielten.

Diskussion Bisherige Studien zur Multimorbidität setzen sich vorrangig mit der Patientenperspektive auseinander. Die Sichtweise des Hausarztes wurde bislang wenig beachtet. Dies ist nach Wissen der Autoren die erste Studie, die auf einer Analyse beider Perspektiven basiert. Die interviewten Hausärzte konzentrierten sich auf die Erkrankungen, die für den Patienten zu potenziell lebensbedrohlichen Situationen führen können. Die Bedürfnisse und Sorgen der Patienten, die oft in engem Zusammenhang mit nichtlebensbedrohlichen, dafür aber unmittelbar sozial einschränkenden Erkrankungen standen, wurden von den Hausärzten weniger stark wahrgenommen. Dieser unter-

schiedliche Fokus und die Wahrnehmung dessen mögen erklären, warum viele Patienten darüber berichteten, dass sie ihre Sorgen dem Hausarzt nur ansatzweise mitteilten. Andererseits ist den interviewten Patienten offenbar nicht bewusst, dass die Verhinderung bzw. Hinauszögerung gravierender Komplikationen, z. B. bei Diabetes mellitus oder Herzinsuffizienz, eben auch ganz wesentlich dafür sorgt, Autonomie zu erhalten. Auch gibt es eine gewisse Unsicherheit darüber, für welche Belange der Hausarzt überhaupt zuständig sei. Diese Ergebnisse machen deutlich, dass der Austausch und die Kommunikation zwischen Hausärzten und ihren Patienten mit Multimorbidität weiterentwickelt werden können. Zukünftige Studien sollten der Frage nachgehen, wie sich die Kommunikation zwischen Hausarzt und multimorbiden Patienten ganz konkret gestaltet. Die direkte Arzt-PatientKommunikation bietet sich hier als Forschungsobjekt an. Auf Basis des hier Dargestellten kann postuliert werden, dass es erhebliche Potenziale für die Förderung partizipativer Entscheidungsprozesse – auch oder gerade – in der Betreuung von Patienten mit Multimorbidität gibt. Kommunikationstraining sollte hier die Sichtweisen von Ärzten und ihren Patienten reflektieren und Anleitung geben, wie die Unterschiede in der jeweiligen Agenda im Gespräch mit dem Patienten thematisiert werden können.

Fazit für die Praxis Während interviewte Hausärzte sich bei Patienten mit Multimorbidität auf die Erkrankungen konzentrierten, die zu potenziell lebensbedrohlichen Situationen führen können, stand bei den Patienten der unmittelbare Erhalt von Autonomie und sozialem Miteinander im Vordergrund. Trotz von beiden Seiten als gut empfundener Kommunikation kam es so fast regelhaft zu Missverständnissen und einem „Aneinander-vorbei-Reden“. Es gibt erhebliche Potenziale für partizipative Entscheidungsprozesse, diese setzen aber voraus, dass die Arzt-Patient-Kommunikation weiterentwickelt wird.

Korrespondenzadresse Dr. rer. pol. C. Löffler Ph.D. Institut für Allgemeinmedizin Universitätsmedizin Rostock Postfach 100888 18055 Rostock [email protected] Danksagungen.  Die Autoren bedanken sich bei allen teilnehmenden Patienten und Ärzten. Ohne ihre Unterstützung wäre die Umsetzung dieser Studie nicht möglich gewesen! Weiterhin bedanken wir uns herzlich bei Carsten A. Reich für die Durchführung eines Teils der Interviews.

Einhaltung ethischer Richtlinien Interessenkonflikt.  C. Löffler, A. Altiner, W. Streich, C.-O. Stolzenbach, A. Fuchs, E. Drewelow, A. Hornung, G. Feldmeier, H. van den Bussche und H. Kaduszkiewicz geben an, dass keine Interessenskonflikte bestehen. Dieses Projekt wurde vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert (Förderkennzeichen 01ET0725 und 01ET0727; Votum der Ethikkommission Nr. PV3091). Dieser Beitrag enthält keine Studien an Menschen oder Tieren.

Literatur   1. Beck RS, Daughtridge R, Sloane PD (2002) Physician-patient communication in the primary care office: a systematic review. J Am Board Fam Pract 15:25–38   2. Björkelund C, Maun A, Murante AM, Hoffman K, De Maeseneer J, Farkas-Pall Z (2013) Impact of continuity on quality of primary care: from the perspective of citizens’ preference and multimorbidity – position paper of the European Forum for Primary Care. Qual Prim Care 21:193–204   3. Boyd CM, Darer J, Boult C, Fried LP, Boult L, Wu AW (2005) Clinical practice guidelines and quality of care for older patients with multiple comorbid diseases: implications for pay for performance. JAMA 294:716–724   4. Corbin J, Strauss A (2008) Basics of qualitative research: techniques and procedures for developing grounded theory. Sage, Los Angeles   5. Fung CH, Setodji CM, Kung FY et al (2008) The relationship between multimorbidity and patients’ ratings of communication. J Gen Intern Med 23:788– 793   6. Gill A, Kuluski K, Jaakkimainen L, Naganathan G, Upshur R, Wodchis WP (2014) „Where do we go from here?“ Health system frustrations expressed by patients with multimorbidity, their caregivers and family physicians. Healthc Policy 9:73–89   7. Greenhalgh T, Hurwitz B (1998) Narrative based medicine: dialogue and discourse in clinical practice. BMJ, London   8. Harrington J, Noble LM, Newman SP (2004) Improving patients’ communication with doctors: a systematic review of intervention studies. Patient Educ Couns 52:7–16

  9. Junius-Walker U, Voigt I, Wrede J, Hummers-Pradier E, Lazic D, Dierks ML (2010) Health and treatment priorities in patients with multimorbidity: report on a workshop from the European General Practice Network meeting ‚Research on multimorbidity in general practice‘. Eur J Gen Pract 16:51–54 10. Mason B, Nanton V, Epiphaniou E, Murray SA, Donaldson A, Shipman C, Daveson BA, Harding R, Higginson IJ, Munday D, Barclay S, Dale J, Kendall M, Worth A, Boyd K (2014) „My body’s falling apart.“ Understanding the experiences of patients with advanced multimorbidity to improve care: serial interviews with patients and carers. BMJ Support Palliat Care. DOI doi: 10.1136/bmjspcare-2013-000639 11. Mayring P (2010) Qualitative Inhaltsanalyse: Grundlagen und Techniken. Beltz, Weinheim 12. Moore LG (2006) Escaping the tyranny of the urgent by delivering planned care. Fam Pract Manag 13:37–40 13. Muth C, Beyer M, Fortin M, Rochon J, Oswald F, Valderas JM, Harder S, Glynn LG, Perera R, Freitag M, Kaspar R, Gensichen J, van den Akker M (2014) Multimorbidity’s research challenges and priorities from a clinical perspective: the case of „Mr Curran“. Eur J Gen Pract 20:139–147 14. Smith SM, O’Kelly S, O’Dowd T (2010) GPs’ and pharmacists’ experiences managing multimorbidity: a „Pandora’s box“. Br J Gen Pract 60:285–294 15. Smith SM, Soubhi H, Fortin M, Hudon C, O’Dowd T (2012) Managing patients with multimorbidity: systematic review of interventions in primary care and community settings. BMJ 3:345 16. Street RL Jr (1991) Information-giving in medical consultations: the influence of patients’ communicative styles and personal characteristics. Soc Sci Med 32:541–548 17. Street RL Jr (2002) Gender differences in health care provider-patient communication: are they due to style, stereotypes, or accommodation? Patient Educ Couns 48:201–206 18. Wagner EH, Austin BT, Von Korff M (1996) Organizing care for patients with chronic illness. Milbank Q 74:511–544 19. Wagner EH, Bennett SM, Austin BT, Greene SM, Schaefer JK, Vonkorff M (2005) Finding common ground: patient-centeredness and evidence-based chronic illness care. J Altern Complement Med 11(Suppl 1):7–15 20. Willems S, De Maesschalck S, Deveugele M, Derese A, De Maeseneer J (2005) Socio-economic status of the patient and doctor-patient communication: does it make a difference? Patient Educ Couns 56:139–146 21. van den Bussche H, Scherer M (2011) Das Verbundvorhaben „Komorbidität und Multimorbidität in der hausärztlichen Versorgung“ (Multicare). Z Gerontol Geriatr 44(Suppl 2):73–100

Kommentieren Sie diesen Beitrag auf springermedizin.de 7 Geben Sie hierzu den Beitragstitel in die Suche ein und nutzen Sie anschließend die Kommentarfunktion am Beitragsende.

Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie X · 2014 

| 5

[Approaches of general practitioners and patients to multimorbidity. Qualitative study].

For general practioners (GP) the treatment of patients suffering from multimorbidity is an everyday challenge. For these patients guidelines which eac...
547KB Sizes 2 Downloads 6 Views