Beiträge zum Themenschwerpunkt Z Gerontol Geriat 2016 · 49:15–19 DOI 10.1007/s00391-015-0988-7 Eingegangen: 15. September 2015 Überarbeitet: 2. November 2015 Angenommen: 6. November 2015 Online publiziert: 25. November 2015 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015

Anna Sarah Richter Institut für Sozialwesen, Universität Kassel, Kassel, Deutschland

Ambivalenz, Alter und Agency Bedeutung alter(n)sspezifischer Ambivalenz für die Konstruktion narrativer Identität

Bezüglich der Frage nach dem subjektiven Altersempfinden zeigen empirische Studien eine Diskrepanz zwischen kalendarischem und subjektiv gefühltem Alter, die sich mit zunehmendem Alter vergrößert. Im gerontologischen Diskurs wird dies als „Auseinanderfallen von gesellschaftlicher Fremddefinition und der individuellen Selbstwahrnehmung“ bezeichnet [2, S. 385]. Diese Diskrepanz bzw. der Umgang mit dieser Diskrepanz wird in unterschiedlichen Modellen erklärt. Besondere Aufmerksamkeit im gerontologischen Diskurs haben dabei die aus dem angelsächsischen Sprachraum stammenden Konzepte des „Ageless Self“ („alterslosen Selbst“, [12]), der „Mask of Ageing“ („Maske des Alters“; [6]) und der „Maskerade“ [3] erfahren.

Hintergrund Kaufmann [12] entwickelte das Konzept des „alterslosen Selbst“ in einer qualitativen Interviewstudie. Identität wird als kontinuierlicher Prozess verstanden, in den neue Erfahrungen entsprechend grundlegender Einstellungen ständig neu integriert werden. „Continuous restructuring [of identity] allows individuals to maintain a feeling of unity about themselves and a sense of connection with the parts of their pasts they consider relevant to who they are in present“ [12, S. 150]. Auf diese Weise sei es den von ihr befragten Älteren möglich, sich selbst als zeitlos und innerlich nicht alternd, sondern alle äußeren Veränderungen überdauernd zu verstehen und so ein „altersloses Selbst“ zu konstruieren. Auch Featherstone und Hepworth

[6] beschreiben mit dem Konzept der „Maske des Alters“ eine Differenz, die sie allerdings als Spannungsverhältnis zwischen dem sichtbar alternden Körper und der nichtalternden Identität entwerfen [6, S. 97]. Der alternde Körper werde damit als Maske wahrgenommen, die die wahre, nichtgealterte Identität verdecke. Biggs [3] argumentiert in seinem Konzept der Maskerade genau entgegengesetzt: Die äußere Maskerade der Jugendlichkeit sei ein Versuch, das innere, reife Selbst vor Verletzungen der altersfeindlichen Gesellschaft zu schützen. Die Maskerade stelle eine Strategie dar, um in einer tendenziell feindlichen und fremdbestimmten Welt agieren und partizipieren zu können. Dies geschehe allerdings auf Kosten der Verleugnung der personalen Identität, weil die gesellschaftlich nichtakzeptablen, da den herrschenden Normen entgegenstehenden Aspekte des Alterns durch die Maskerade verschleiert würden [3, S. 154]. Allen Ansätzen liegt ein Konzept von Identität zugrunde, das diese als in sich kohärent und stabil ansieht, auch wenn sie als andauernder Prozess wie bei Kaufmann oder im Fall von Biggs als Veränderungen im Prozess des Alterns verstanden wird [8, S. 39]. Dagegen betonen aktuelle Ansätze den andauernden Konstruktionscharakter von Identitäten und stellen die Annahmen von Kohärenz und Stabilität infrage [4, 8]. Anhand von 2 maximal kontrastierenden Fällen möchte ich in diesem Beitrag die Ambivalenzen aufzeigen, die mit der Identifikation als „alt“ verbunden sind. In jedem der beiden Fälle wird eine andere Strategie

des Umgangs mit dieser Ambivalenz rekonstruiert.1

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Aneignung von Identitätszuschreibungen ist in hohem Maß ambivalenzträchtig Daraus leite ich die These ab, dass die Aneignung von Identitätszuschreibungen innerhalb von stark polarisierten und mit hierarchsierenden Wertungen versehenen Differenzverhältnissen in hohem Maß ambivalenzträchtig ist. Es wird gezeigt, wie die hierarchisierende Dichotomie in den Interviews aktualisiert und reproduziert, aber auch modifiziert wird. Damit wird aus einer empirischen Perspektive das Konzept der stabilen und kohärenten Identität infrage gestellt. In den hier präsentierten Beispielen bezieht sich Ambivalenz allein auf die Selbstverortung in Bezug auf die abgewertete Kategorie des Alters. Die Analyseperspektive ließe sich jedoch durchaus ausweiten auf diejenigen Ambivalenzerfahrungen, die im Zusammenhang mit dem Prozess des Älterwerdens auftreten. Bevor ich zu den Fällen komme, sollen zunächst die hier zugrunde liegenden Konzepte von Alter, Ambivalenz und Handlungsfähigkeit näher erläutert werden.

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Die beiden Fälle sind Teil eines Samples von 12 Frauen zwischen 63 und 86 Jahren, mit denen qualitativ-biografische Interviews geführt wurden. Die Interviews wurden mit der Methode der Rekonstruktion narrativer Identität im Anschluss an Lucius-Hoene und Deppermann [14] ausgewertet. Alle Fälle wurden anonymisiert.

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Beiträge zum Themenschwerpunkt

Bestimmung der zentralen Begriffe Alter In Bezug auf das Alter möchte ich mich darauf beschränken, auf den Aspekt des „Doppelcharakters von Alter“ [5] hinzuweisen: So kann Alter im Sinne von Altern als andauernder Prozess verstanden werden, der seine individuelle und gesellschaftliche Bedeutung aus dem Wechselverhältnis von Struktur und Individuum bezieht und dementsprechend trotz seiner grundlegenden Materialität nie unabhängig von sozialen Bedeutungszuschreibungen zu verstehen ist [1, S. 56]. Im Gegensatz zu diesem prozessualen Verständnis von Alter steht die Codierung von Alt und Jung als binäre Kategorien, deren Bedeutung durch die Differenz überhaupt erst hervorgebracht wird. Alt und jung erscheinen als Dualismen, die auf entzweienden Vorstellungen beruhen und Trennungen in den Blick rücken [10, S. 22 ff., 13]. Sie sind darüber hinaus mit Hierarchisierungen verbunden: So zeigen historische Diskursanalysen, dass sich um die letzte Jahrhundertwende die Verbindung von Alter und Autorität in dem Maß aufzulösen begann, in dem Jugendlichkeit zu einem gesellschaftlichen Wert an sich wurde. Alter wurde damit im Verhältnis zum Jungsein zur abgewerteten Kategorie [7, S. 246].

Ambivalenz Der Begriff der Ambivalenz bezeichnet im Alltagsverständnis die konfligierende Bewertung eines Objekts im weitesten Sinne oder von 2 unterschiedlichen Handlungsmöglichkeiten, die nicht gleichzeitig realisiert werden können. Die Rede ist beispielsweise von der ambivalenten Beziehung zu einer Person, den ambivalenten Effekten einer Institution oder dem Gefühl der Ambivalenz angesichts von 2 sich ausschließenden Handlungsoptionen.

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Identifikationsprozesse sind auch Unterwerfungs- und Ausschließungsprozesse In Abgrenzung zu denjenigen Konzepten, in denen Ambivalenz als potenzielle Ge-

fahr für autonome Handlungsfähigkeit verstanden wird, soll sie hier im Anschluss an die Subjekttheorie Butlers [4] als grundlegendes Merkmal subjektivierender Vergesellschaftungsprozesse in Moderne und Spätmoderne verstanden werden [4, S. 15]. Subjekte und subjektive Handlungsfähigkeit werden in Prozessen der Unterwerfung unter spezifische Normen hervorgebracht. Damit ist gemeint, dass sich jedes Individuum, um als Subjekt handlungsfähig zu sein, bestimmten gesellschaftlichen Normen unterwerfen muss, da es sonst nicht anerkannt und damit nicht handlungsfähig ist. Die Unterwerfung unter bestimmte Normen kann auch als Prozess der Identifikation verstanden werden, der damit immer eine Gleichzeitigkeit von Fremdzuschreibung und Aneignung dieser Zuschreibungen darstellt. Wichtig ist der Gedanke, dass Aneignung nicht lediglich die einfache Übernahme der Fremdzuschreibung, sondern ebenso deren Modifikation oder Zurückweisung meinen kann. Identifikationsprozesse sind in diesem Sinne immer ambivalenzträchtig, da es sich dabei immer auch um Unterwerfungs- und Ausschließungsprozesse handelt. Da Identifikationsprozesse häufig im Rahmen von hierarchischen Dualismen operieren (alt-jung, männlich-weiblich, schwarz-weiß), mutet die Ambivalenzträchtigkeit ungleich höher an für diejenigen, die auf abgewerteten Positionen verortet werden. Die Zuschreibung einer sozial hoch geschätzten Position erscheint dagegen als mit weit weniger Ambivalenzen verbunden (allerdings entsprechend den oben gemachten Ausführungen nicht gänzlich ambivalenzfrei). Wichtig ist hier außerdem der jeweilige Kontext, in dem spezifische Identitätszuschreibungen und -konstruktionen stattfinden. Während die Fremdzuschreibung des Altseins in nahezu jedem gesellschaftlichen Kontext einer Beleidigung gleichkommt (und häufig tatsächlich als solche verstanden wird), kann die Zuschreibung des Jungseins sowohl als abwertende Ausschließung (du bist dafür noch zu jung) als auch als Kompliment verstanden werden [16]. Ambivalenz kann in diesem Zusammenhang als Irritation hierarchisch-dualistischer Denkmodelle

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gefasst werden, die die inhärente Logik des Entweder-oder durchbricht und ein Sowohl-als-auch einbringt [9, S. 361]. Dieses „Sowohl-als-auch“ kommt insbesondere in Prozessen des „Hin-undher“ und „Vor-und-zurück“ zum Ausdruck, die Lüscher und Haller mit dem Begriff des „Vaszillierens“ bezeichnen [15]. Auf diese Weise kann Ambivalenz den hierarchischen Binarismen ihren Geltungsanspruch entziehen.

Agency Als Agency sollen schlussendlich solche Vorstellungen von Handlungs- und Wirkfähigkeit verstanden werden, die aus dem qualitativen Datenmaterial rekonstruiert werden können. Agency ist in diesem Sinne ein subjektives Konstrukt und muss nicht mit einer objektiv bestimmten, faktischen Handlungsmacht korrespondieren [11, S. 11]. Anhand der beiden Fälle von Gudrun Jäschke und Jutta Wölfel werden nun die Ambivalenzen rekonstruiert, die mit der Identifikation als „alt“ verbunden sind. Der Kontrast ergibt sich aus dem unterschiedlichen Umgang mit dieser Ambivalenz.

Gleichzeitigkeit von Jung und Alt Die 1926 in Thüringen geborene Gudrun Jäschke kommt aus dem Arbeitermilieu, konnte nach dem Krieg in der DDR ihr Abitur nachholen und Grundschullehrerin werden. Sie beschreibt in ihrer Lebensgeschichte die Schwierigkeiten und Härten, mit denen sie seit ihrer Schulzeit konfrontiert war. Diese konnte sie jedoch immer meistern, z. T. war sie dazu auf die Unterstützung von nahestehenden Personen angewiesen. Ihre in den Erzählungen vorgenommenen Selbstpositionierungen sind geprägt von der Akzeptanz struktureller Zwänge, innerhalb derer sie jedoch die gegebenen Möglichkeiten nutzt und so, zumindest graduell, die ihr gesetzten Grenzen verschieben kann. Auffällig sind außerdem die Konstruktionen von Verbundenheit mit dem Ort, an dem sie lebt, und damit verbundene Zugehörigkeitskonstruktionen zu größeren Gruppen (z. B. als Teil einer Gruppe von 8 Geschwistern, einer Nach-

Zusammenfassung · Abstract barschaft oder eines Kollegiums) in ihrem gesamten Lebensverlauf. Von der Struktur her konstruiert sie die Geschichte ihres Erwachsenenlebens als die einer kontinuierlichen Verbesserung: Die Zeit nach dem Krieg wird als eine Phase beschrieben, in der kaum die Grundbedürfnisse nach Nahrung und Wärme befriedigt werden konnten, die Jahre in der DDR als gekennzeichnet durch Mangelwirtschaft und staatliche Willkür. In der Gegenwart beschreibt sie sich selbst als zufrieden und ihren bescheidenen Wohlstand genießend. Deutlich kommuniziert sie an einigen Stellen altersbedingte körperliche Einschränkungen, beschreibt ihren Körper aber auch als Quelle von Genuss z. B. bei der täglichen Pflege. Auf die Frage, ob sie sich selbst als alt bezeichnen würde, antwortet sie folgendermaßen:

Z Gerontol Geriat 2016 · 49:15–19  DOI 10.1007/s00391-015-0988-7 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015 A.S. Richter

Ambivalenz, Alter und Agency. Bedeutung alter(n)sspezifischer Ambivalenz für die Konstruktion narrativer Identität Zusammenfassung Die empirisch feststellbare Differenz zwischen kalendarischem und subjektiv empfundenem Alter bei älteren Menschen wird in unterschiedlichen Modellen im Zusammenhang mit der Ausbildung einer Altersidentität erklärt. Aus biografischer Perspektive wird im vorliegenden Beitrag anhand von 2 maximal kontrastierenden Fällen gezeigt, wie im Sprechen über das eigene Alter Ambivalenz zum Ausdruck kommt und welche narrativen Umgangsweisen mit dieser Ambivalenz sich rekonstruieren lassen. Auf diese Weise soll gezeigt werden,

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Im Gegensatz dazu stehen gesellschaftlichkulturelle Repräsentationen junger Frauen als „hübsch“ und „sexy“ sowie diejenigen älterer Frauen aus höheren Schichten, die als „ältere Damen“ bezeichnet werden und, vermittelt über ihren Wohlstand, zumindest ein gewisses Ansehen genießen.

Schlüsselwörter Ältere Menschen · Biografie · Bewältigungsverhalten · Selbstwahrnehmung · Interview

Ambivalence, old age and agency. Meaning of age-specific ambivalence for the construction of narrative identity

Na ja, alte Weiber sind wir. Da hilft ja alles nix. Und jung sind wir nicht mehr, aber ich fühle mich nicht alt! [Pause von 3 Sekunden] Es ist so, wie es ist. Die Frage zielt auf die Selbstpositionierung in Bezug auf die Kategorie des Alters und verweist damit, zumindest implizit, auf den Dualismus von „alt“ und „jung“. Die Kategorisierung als „alt“ wird von Gudrun Jäschke nicht zurückgewiesen, sondern mit der Selbstbezeichnung als „altes Weib“ angenommen. Mit dem abwertenden Begriff des „alten Weibes“ wird gleichzeitig eine sozialstrukturelle Zugehörigkeit zum proletarischen Milieu konstruiert sowie eine Positionierung als weiblich vorgenommen. Der Begriff verweist damit in der Repräsentation älterer Frauen als ärmlich, hässlich und sexuell nicht begehrenswert auf negative gesellschaftliche Zuschreibungen. 2 Verwiesen wird hier also auf eine stark abgewertete soziale Position. Diese ist jedoch ironisch gebrochen, da es sich um eine übertriebene Formulierung handelt, die insbesondere dann deutlich wird, wenn

dass die in den unterschiedlichen Modellen vorgenommenen Konzeptualisierungen von Altersidentität eher mögliche Formen des Umgangs mit alter(n)sspezifischen Ambivalenzen beschreiben, als dass sie als umfassende Erklärungsansätze zu verstehen sind.

Abstract Different models of the formation of age identity explain the empirically determined difference between the chronological age and the age which is subjectively perceived by elderly people themselves. From a biographical point of view and on the basis of two maximally contrasting empirical cases, this article investigates the ways ambivalence appears in the narrations of elderly people about personal aging and the narrative strategies of coping with this experience

man die konkrete Interviewsituation in die Analyse einbezieht: In dieser stellt sie sich als gepflegte und gebildete ältere Frau dar. Durch die Ironie findet also gleichzeitig mit der Positionierung als alt auch eine Distanzierung statt, und die Befragte unterläuft so die durch die Interviewerin an sie gerichtete Aufforderung einer eindeutigen Kategorisierung als alt oder nichtalt.3 Im Satz „Da hilft ja alles nix“ wird Altsein zum unabänderlichen Schicksal, gegen das man nichts tun kann. Vor allem kann sie nichts gegen die Zugehörigkeit zu dieser Gruppe, also gegen die von der Umwelt vorgenommene oder er3 

Dabei ist anzumerken, dass sie nicht nur von sich spricht, sondern sich mit dem Gebrauch des Personalpronomens „wir“ in ein größeres Kollektiv einschreibt.

of ambivalence. The results of the analysis indicate that the conceptualization of age identity in the different models should be seen more as descriptions of potential but not necessary forms of coping with age-specific ambivalences. Keywords Elderly · Biography · Coping behavior · Self perception · Interview

zwungene Positionierung, tun. Diese Aussage impliziert aber auch, dass es nicht unbedingt erstrebenswert ist, alt zu sein, da es ja sonst nicht nötig wäre, etwas dagegen zu tun. Das negative Bild des Alters wird hier also fortgeschrieben. Es folgt die Positionierung als „nicht mehr jung“. Auf konstativer Ebene wird damit zwar die zuvor vollzogene Positionierung als „alt“ durch die Verneinung bestätigt. Durch den Gebrauch des gegensätzlichen Begriffs „jung“ wird hier allerdings die binäre Konstruktion von Alt und Jung erneut deutlich. Sprachlich wird damit eine Bewegung zwischen diesen binären Begriffen vollzogen, die in der Vollendung des Satzes („ich fühle mich nicht alt“) zu einer Pendelbewegung wird, da sie zum Ausgangsbegriff „alt“ zurückkehrt, wenn auch nun mit anderem Vorzeichen. Durch diese Pendelbewegung wird ein Raum zwischen

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Beiträge zum Themenschwerpunkt der binären Opposition von Alt und Jung konstruiert, der die dualistische Logik überschreitet und verschiebt [13]. Auf der Sinnebene funktioniert dies durch die Unterscheidung des objektiv mess- und feststellbaren kalendarischen Alters von dem subjektiv gefühlten Alter. Dennoch verweist die Aussage auf etwas zwischen oder unabhängig von den Gegensätzen von Alt und Jung, ohne jedoch auf ein mittleres Erwachsenenalter zurückzugreifen. Die daran anknüpfende Feststellung „Es ist so, wie es ist“ erscheint als Relativierung der kategorischen Einordnung als alt oder nichtalt: Es ist so wie es ist, auch wenn die symbolische Bezeichnungspraxis dies nicht abzubilden vermag. Es kann also zunächst einmal festgehalten werden, dass in der kurzen Textpassage die Ambivalenz deutlich wird, sich selbst als alt zu positionieren. Zwar gehört Gudrun Jäschke aufgrund ihres kalendarischen Alters eindeutig zur Gruppe der Älteren und nimmt auch eine entsprechende Selbstpositionierung vor, gleichzeitig distanziert sie sich davon durch Ironie und, indem sie dieser Zugehörigkeit ihr eigenes Empfinden als nichtalt entgegenstellt. DDAls Bewältigungsstrategie lässt sich das Vaszillieren zwischen den beiden Polen Alt und Jung beschreiben. Hierdurch wird die differenzierende Trennung unterlaufen [13]. Gudrun Jäschke eröffnet sich auf diese Weise Möglichkeitsräume, die sich auch in den Beschreibungen ihres Alltags wiederfinden, wo sie sich als selbstbestimmt und handlungsfähig beschreibt, und die sich als übergreifende Handlungsmuster ebenso an anderen Stellen in ihrer Biografie rekonstruieren lassen.

Zwang zur Eindeutigkeit Im Kontrast dazu steht der Fall Jutta Wölfel, die ihre Lebensgeschichte nicht als kontinuierliche Entwicklung erzählt, sondern gekennzeichnet durch einen Bruch, der durch Altersdiskriminierung und Entlassung in ihrem letzten Arbeitsverhältnis ausgelöst wurde. Diese Erfahrung beschreibt sie mit den Worten, sie sei „ausgesondert“ und „entsorgt“ worden. Der dadurch verursachte biografische

Bruch kommt auch in der Erzählstruktur ihrer Lebensgeschichte zum Ausdruck: Sie beschreibt sich in der Vergangenheit als tatkräftig und belastbar. Die neuen Anforderungen nach dem Zusammenbruch der DDR, die von vielen Betroffenen als höchst belastend beschrieben werden, stellt sie als erfüllende Herausforderung und Möglichkeit der persönlichen Entwicklung dar. Erst durch die Erfahrung von Diskriminierung am Arbeitsplatz und der darauf folgenden, für sie unerwarteten Kündigung 2 Jahre vor dem regulären Renteneintritt, mit dem auch finanzielle Einbußen verbunden waren, treten schwere gesundheitliche Krisen auf, die eben jenen biografischen Bruch markieren. In ihrer aktuellen Lebenssituation beschreibt sie sich als bereits durch Kleinigkeiten überfordert. Dabei weiß sie und reflektiert auch, dass sie Probleme sieht, wo keine sind. Obwohl sich im Fall Jutta Wölfel ein positives Ruhestandsbild rekonstruieren lässt, zeigt sich, dass sie dieses nicht umsetzen kann, da sie immer das Gefühl habe, noch etwas erledigen zu müssen. In Bezug auf das Alter ist ihr stark ausgeprägtes negatives Altersbild auffällig. So spricht sie sehr ausführlich darüber, dass man im Alter eingeschränkt sei und dass man nicht mehr gebraucht würde. Sich selbst beschreibt sie im ersten Teil des Interviews durchgängig als alt und deshalb nicht mehr so leistungsfähig. Sie habe die Erfahrung gemacht, dass sie Aufgaben nicht mehr richtig ausführen könne, und vieles, was sie noch vor wenigen Jahren tun konnte, würde sie heute nicht mehr schaffen. Dies führt sie explizit auf ihr Alter zurück. Das geht so weit, dass sie erzählt, wie sie gegen die Meinung ihres Mannes dafür eintritt, sich selbst als alt zu bestimmen: „Der sagt dann oftmals zu mir, nun tu nicht so, als wenn du alt bist, ja, aber es geht vieles nicht mehr.“ Jutta Wölfel affirmiert also die zunächst als von außen (durch den Arbeitgeber) zugeschriebene abgewertete Positionierung als alter Mensch mit nachlassender Leistungsfähigkeit und dadurch bedingter Funktionslosigkeit. Sie verteidigt diese Positionierung sogar gegen anderslautende Einwände ihres Mannes. Deutlich wird der Prozess der erzwungenen Affirmation in folgender Sequenz: Alt sein, ich hab mir manchmal auch einreden müssen, du bist jetzt nicht mehr so

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ganz so jung. [E]s ist einem ja auch oft genug gesagt worden, dass man … nicht mehr so jung ist oder gezeigt worden. Sie zwingt sich also dazu, die Außensicht zu übernehmen. Nur an einer Stelle im Interview wird das andere, das Gefühl jung zu sein, gegen das sie sich zur Selbstbeschreibung als alt zwingen muss, explizit: [A]ber im großen Ganzen fühl ich mich manchmal so, na ja wie vor 30  Jahren. Aber man ist dann trotzdem irgendwie bewegungseingeschränkt, das merkt man schon … So und da denke ich, irgendwann, du musst ja auch mal wissen, wie alt du bist.

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Trotz Benennung gegensätzlicher Gefühle wird auf Eindeutigkeit gedrängt Diesem Gefühl des Jung- oder Jüngerseins lässt sie in ihrer narrativen Praxis jedoch keinen Raum, es wird sofort eingefangen und zurückgewiesen, in dem ihm die Erfahrung eingeschränkter Bewegungsfähigkeit entgegengestellt wird. Dass trotz der Benennung gegensätzlicher Gefühle Ambivalenz nicht zugelassen wird, wird in dem die Sequenz abschließenden Satz deutlich, in dem sie auf Eindeutigkeit drängt. Diese kann in ihrem Fall nur die Eindeutigkeit des Altseins sein. Als Strategie des Umgangs mit Ambivalenz zeigt sich bei Jutta Wölfel die Vereindeutigung, die in ihrem Fall analog ist zur Einschränkung ihrer Handlungsspielräume. Ihre Lebensgeschichte ist durch die Abwertungs- und Diskriminierungserfahrung so stark überschrieben, dass sie der darin vorgenommenen Positionierung nichts entgegensetzen kann.

Diskussion Ich möchte meine Ergebnisse nun im Zusammenhang mit den Konzepten des „alterslosen Selbst“, der „Maske des Alterns“ und der „Maskerade“ diskutieren. In den vorgestellten Fällen lässt sich keine Konstruktion eines durch die Maske des Alters verborgenen jugendlichen Selbst finden. Ebenso wenig finden sich Erzählungen einer „mature identity“, die

gegen ihren Willen zu einer jugendlichen Selbstpräsentation gedrängt würde. In beiden Fällen zeigen sich Hinweise auf die Konstruktion eines alterslosen Selbst, die jedoch nicht ungebrochen sind. Vielmehr lässt sich in beiden Fällen Ambivalenz in Bezug auf die Identifikation mit dem Alter aufzeigen, die mithilfe unterschiedlicher Strategien bewältigt wird. In einem Fall ist es das Unterlaufen und Verschieben der differenzierenden Trennung, im anderen ist es die vereindeutigende Affirmation des zugeschriebenen und abgewerteten Alters. Es konnte also gezeigt werden, wie die hierarchisierende Dichotomie in den Interviews aktualisiert und reproduziert, aber auch modifiziert wird. Es lässt sich nun diskutieren, inwiefern die eingangs beschriebenen Konzepte ebenfalls als spezifische Strategien der Ambivalenzbewältigung interpretiert werden können. Beispielhaft möchte ich dies abschließend anhand des Konzepts der Maskerade tun: Ausgangspunkt dieses Konzepts ist die anthropologische Konstante der Interaktion mit anderen Menschen. Im Alter geht die Notwendigkeit, andere Menschen zu treffen, einher mit dem Bedürfnis, das innere, reife Selbst vor deren internalisierter Altenfeindlichkeit zu schützen [3, 152 ff]. Dies ist die Beschreibung einer ambivalenten Situation: 2 gleichwertige Handlungsorientierungen, die zunächst nicht zu ein und demselben Zeitpunkt ausgeführt werden können. Entsprechend kann die Maskerade als eine Strategie gedeutet werden, mit dieser Ambivalenz umzugehen. Dabei erscheint jedoch die Annahme einer stabilen „mature identity“ zweifelhaft. DDIdentität scheint das Ergebnis eines spezifischen Umgangs mit Ambivalenz zu sein. Vielmehr scheint Identität das Ergebnis eines spezifischen Umgangs mit Ambivalenz zu sein, in diesem Fall dem Vaszillieren zwischen einer Selbstverortung als alt und der Anpassung an äußere Normen der Jugendlichkeit. Dies erscheint vor dem Hintergrund der dargestellten Fälle jedoch lediglich als eine mögliche Konstellation unter vielen, die durch Ambivalenz gekennzeichnet sind. Die darin vollzogenen Prozesse der

Identifikation sind selbstverständlich nie stabil und abgeschlossen, sondern flexibel und veränderbar.

Fazit 55In beiden beschriebenen Fällen lassen sich Ambivalenzen bezüglich der Identifikation mit dem Alter aufzeigen. Auf welche Art und Weise damit umgegangen wird und welche Konsequenzen daraus für die subjektiven Vorstellungen von Handlungsfähigkeit resultieren, ist jedoch höchst unterschiedlich. 55Es zeigt sich, dass durch Ironie und das sprachliche Nachvollziehen der Ambivalenz im Sinne des Vaszillierens der starke Dualismus zwischen den Polen und damit die festschreibende Kategorisierung im Sinne von Entweder-oder unterlaufen und ein Raum des „Dazwischen“ konstruiert werden kann. Diese Form des Umgangs mit Ambivalenz korrespondiert mit der subjektiven Konstruktionen von Handlungsfähigkeit. 55Im zweiten Fall findet sich ein auf Eindeutigkeit zielender Umgang mit Ambivalenz, der mit der Vorstellung stark eingeschränkter Handlungs- und Wirkfähigkeit einhergeht. 55Diese unterschiedlichen Umgangsweisen sind nicht das Ergebnis rationaler Entscheidungen, sondern stehen in einem engen Wechselverhältnis mit den gesellschaftlich strukturierten biografischen Erfahrungen und den daraus entwickelten Selbstkonzepten.

Korrespondenzadresse A.S. Richter Institut für Sozialwesen, Universität Kassel Arnold-Bode-Str. 10, 34127 Kassel [email protected]

Einhaltung ethischer Richtlinien

Literatur   1. Amann A (2008) Sozialgerontologie: ein multiparadigmatisches Forschungsprogramm? In: Amann A, Kolland F (Hrsg) Das erzwungene Paradies des Alters? Fragen an eine kritische Gerontologie. VS, Wiesbaden, S 45–62   2. Amrhein L, Backes GM (2008) Alter(n) und Identitätsentwicklung. Formen des Umgangs mit dem eigenen Älterwerden. Z Gerontol Geriatr 41:382– 393   3. Biggs S (2003) Negotiating Aging Idetity: surface, Depth, and Masquerade. In: Biggs S, Lowenstein A, Hendricks J (Hrsg) The Need for Theory: critical Approaches to Social Gerontology. Baywood Publishing Company, Amityville, S 145–159   4. Butler J (2001) Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung. Suhrkamp, Frankfurt/Main   5. van Dyk S (2015) Soziologie des Alters. transcript Verlag, Bielefeld   6. Featherstone M, Hepworth M (2009) Die Maske des Alterns und der postmoderne Lebenslauf. In: van Dyk S, Lessenich S (Hrsg) Die jungen Alten. Analysen einer neuen Sozialfigur. Campus, Frankfurt a. M. S 85–105   7. Göckenjahn G (2009) Vom ‚tätigen Leben‘ zum ‚aktiven Alter‘: Altern und Alterszuschreibungen im historischen Wandel. In: van Dyk S, Lessenich S (Hrsg) Die jungen Alten. Analysen einer neuen Sozialfigur. Campus, Frankfurt a. M. S 235–255   8. Graefe S (2010) Altersidentität. Zum theoretischen und empirischen Gebrauchswert einer prekären Kategorie. Mittelweg 36(19):34–51   9. Haller M (2011) Dekonstruktion der „Ambivalenz“. Poststrukturalistische Neueinschreibungen des Konzepts der Ambivalenz aus bildungstheoretischer Perspektive. Forum Psychoanal 27:359–371 10. Haller M (2013) Ambivalente Subjektivationen. Performativitätstheoretische Perspektiven auf die Transformation von Alters- und Geschlechternormen im geronto-feministischen Diskurs. In: Haller M, Meyer-Wolters H, Schulz-Nieswandt F (Hrsg) Alterswelt und institutionelle Strukturen. Kölner Beiträge zur Alternsforschung. Königshausen et Neumann, Würzburg, S 19–36 11. Helfferich C (2012) Einleitung: Von roten Heringen, Gräben und Brücken. Versuche einer Kartierung von Agency-Konzepten. In: Bethmann S, Helfferich C, Hoffmann H, Niermann D (Hrsg) Agency. Qualiative Rekonstruktionen und gesellschaftsheoretische Bezüge von Handlungsmächtigkeit. Beltz Juventa, Weinheim, S 9–39 12. Kaufman SR (1986) The ageless self. Sources of meaning in late life. University of Wisconsin Press, Madison, Wis 13. Küpper T (i.E.) Alter(n), Ambivalenz und Mimikry 14. Lucius-Hoene G, Deppermann A (2004) Rekonstruktion narrativer Identität. Ein Arbeitsbuch zur Analyse narrativer Interviews. VS, Wiesbaden 15. Lüscher K, Haller M (i.E.): Ambivalenz – ein Schlüsselbegriff in der Gerontologie? Elemente einer Heuristik am Beispiel der Identitätsbildung im Alter 16. Rossow J, Koll-Stobbe A (2015) Diskursive Konstruktionen und Reflektionen von Altersbildern – Ein Blick auf Sprache und Interaktionsnormen. J Psychol 23:31–54

Interessenkonflikt.  A.S. Richter gibt an, dass kein Interessenkonflikt vorliegt. Dieser Beitrag beinhaltet keine Studien an Menschen oder Tieren.

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[Ambivalence, old age and agency: Meaning of age-specific ambivalence for the construction of narrative identity].

Different models of the formation of age identity explain the empirically determined difference between the chronological age and the age which is sub...
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