Journal Club Med Klin Intensivmed Notfmed 2014 · 109:276–278 DOI 10.1007/s00063-014-0375-y Eingegangen: 7. April 2014 Angenommen: 7. April 2014 Online publiziert: 26. April 2014 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014

Redaktion

S. Kluge, Hamburg

Originalpublikation Z. A. Puthucheary, J. Rawal, M. McPhail et al. (2013) Acute skeletal muscle wasting in critical illness. JAMA 310:1591–1600

Hintergrund Der akute Muskelabbau bei kritisch kranken­ Patienten führt häufig zu Muskelschwäche [1] und einer langfristig eingeschränkten Lebensqualität [2]. Der Fokus der im Folgenden kommentierten Studie liegt auf der Untersuchung der Skelettmuskelproteinhomöostase im Zusammenhang mit akutem Muskelabbau bei beatmeten Patienten während der ersten 10 Tage nach Beginn einer kritischen Erkrankung.

Methode In die prospektive Beobachtungsstudie­ wurden Patienten eingeschlossen, die länger als 48 h beatmet wurden und einen voraussichtlichen Intensivaufenthalt von mehr als 7 Tagen sowie eine nach klinischer Einschätzung hohe Überlebenswahrscheinlichkeit hatten. Neben histologischen Kriterien wurde die Muskelmasse durch Messung der Muskelquerschnittsfläche des M. rectus femoris im zeitlichen Verlauf an Tag 1, 3, 7 und 10 nach Beginn einer kritischen Erkrankung mithilfe einer Ultraschalluntersuchung planimetrisch bestimmt. Aus Nadelbiopsien wurden zu diesen Zeitpunkten Menge und Aktivierungsgrad der Proteine, die an der Regulation der Proteinhomöostase der Skelettmuskulatur beteiligt sind, gemessen. Bei 11 Patienten wurde die Messung von Proteinsyn-

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Akuter Muskelabbau bei kritisch kranken Patienten theserate und -turnover im M. vastus lateralis mithilfe der stabilen Isotope 1,2-13C2Leucin und D5-Phenylalanin durchgeführt. Die so gewonnenen Ergebnisse wurden mit verschiedenen klinischen Parametern korreliert.

Ergebnisse Bei 28 von insgesamt 63 eingeschlossenen Patienten konnten Messungen der Muskelmasse, Proteinsyntheserate und Regulation der Proteinhomöostase durchgeführt werden. Es zeigte sich eine signifikante Abnahme der Muskelmasse im Verlauf der ersten 10 Tage nach Beginn der kritischen Erkrankung. Die mittels Ultraschalluntersuchung gemessene Abnahme des Muskelquerschnitts fiel im Vergleich zur Änderung des Muskelfaserquerschnitts sowie der fluorometrisch gemessenen Protein-DNA-Ratio geringer aus. Die Proteinanalysen der an der Regulation des Skelettmuskelhomöstase beteiligten­ Schlüsselproteine zeigten eine Hochregulation der an der Proteindegradation beteiligten Ligasen des Ubiquitin-­ Proteasom-Systems „muscle ring finger protein“ 1 (MuRF1) und Atrogin-1 an Tag 1. Die Untersuchung der Proteinbilanz im M. vastus lateralis zeigte sowohl an Tag 1 als auch an Tag 7 eine verminderte Einbaurate des stabilen Isotops 1,2-13C2Leucin. Dies weist auf eine reduzierte Synthese- und vermehrte Abbaurate hin, was – in der Summe betrachtet – zu einer katabolen Bilanz der Muskelmasse führt. Es zeigten sich signifikante positive­ Korrelation zwischen der Anzahl von Organversagen bzw. der zugeführten Protein­menge während enteraler Ernährung einerseits und der Abnahme des

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Muskelquerschnitts des M. rectus femoris an Tag 10 andererseits.

Diskussion Die Studie zeigt, dass der Abbau der Skelettmuskulatur nach Beginn einer kritischen Erkrankung bereits frühzeitig einsetzt. Die gesteigerte Proteindegradation und die reduzierte Proteinsynthese führen unmittelbar nach Aufnahme auf die Intensivstation zur katabolen Proteinbilanz. In diesem Patientenkollektiv konnte der Muskelmassenverlust hinreichend genau mithilfe der Ultraschalltechnik ermittelt werden. Dieser ist mit dem Schweregrad von Organversagen assoziiert.

Kommentar Die Stärken der Studie liegt in der longitudinalen, methodisch sehr komplexen Untersuchung unterschiedlicher Aspekte­ der Skelettmuskelhomöostase bei kritisch kranken beatmeten Patienten in den ersten 10 Tagen nach Aufnahme auf eine Intensivstation. Für den Leser ist es mitunter mühsam, aus der Vielzahl der dargestellten Aspekte­ die klinisch relevanten Ergebnisse herauszufiltern. Wesentliches Ergebnis der Untersuchung ist der Nachweis, dass der Abbau der Skelettmuskulatur nicht das Ergebnis einer langwierigen Intensivtherapie ist, sondern im Sinne eines muskulären Organversagens schon zu Beginn einer kritischen Erkrankung stattfindet. Dies konnte mit unterschiedlichen Methoden aus unterschiedlichen Perspektiven gezeigt werden:

So war die Messung des Muskelquer­ schnitts mittels Ultraschall bei 42 Patienten ein geeignetes nichtinvasives Verfahren, um den Verlust von Muskelmasse bei kritisch Kranken im Verlauf zu bestimmen. Im Supplement ist eindrücklich gezeigt, dass die untersucherabhängige Variabilität der Methode sehr klein ist. Im Vergleich zu invasiven Standardverfahren, wie z. B. der Bestimmung des Muskelfaserquerschnitts aus einer Muskelbiopsie, zeigen die Ergebnisse aber auch, dass das Ausmaß des Muskelmassenverlustes in der Ultraschalluntersuchung unterschätzt wurde. Dies mag durch intramuskuläre Ödeme bedingt sein, die den Muskel in der Ultraschalluntersuchung größer erscheinen lassen. In der Summe besteht netto in den ersten 7 Tagen nach Beginn der kritischen Erkrankung eine katabolische Protein­ bilanz im Skelettmuskel (n=11). Die Proteomanalyse jener Schlüsselproteine, die für die Regulation von Skelettmuskelproteinsynthese und -degradation verantwortlich sind, zeigte komplexe Interaktionen aber kein klar erkennbares Muster, mit dem sich die Regulation der Skelettmuskelhomöostase im Verlauf beschreiben ließe. Ähnlich wie in Untersuchungen der Autoren aktuell gezeigt [3] sind auch in der vorliegenden Arbeit die an der Proteindegradation beteiligten muskelspezifischen E3-Ligasen des Ubiquitin-Proteasom-Systems (MuRF1, Atrogin-1) in der Frühphase hochreguliert. Für die MuRF1-Hochregulation an Tag 1 konnte, ähnlich wie bei Wollersheim et al. [3], ein signifikanter Zusammenhang zum Muskelmassenverlust hergestellt werden. Die multivariate Analyse klinischer Daten im Hinblick auf die Entwicklung eines Muskelmassenverlustes zeigt neben der signifikanten Assoziation mit dem Ausmaß von Organversagen einige weitere interessante Aspekte auf: Je höher die enteral oder parenteral zugeführte Proteinmenge war, desto ausgeprägter war der Muskelmassenverlust an Tag 10 (n=42 Patienten). Dem auf Proteindegradation eingestellten Muskel schadet offensichtlich eine zu hohe externe Zufuhr von Aminosäuren. Eine Erklärung für diesen Befund ergibt sich aus den dargestellten Ergebnissen nicht. Eine ähnliche Beobachtung wurde kürz-

lich in der Frühphase der kritischen Erkrankung hinsichtlich des Glukosemetabolismus im Skelettmuskel gezeigt. Auch hier konnte der Skelettmuskelmetabolismus trotzt eines hohen Substrat- und Insulinangebots in der Frühphase der kritischen Erkrankung metabolisch nicht stimuliert werden. Insulinresistenz war mit Muskelatrophie assoziiert [4]. Welche Bedeutung diese Beobachtungen für die zeitliche Planung einer Ernährungstherapie haben, muss in weiteren Studien untersucht werden. Die Entwicklung eines Muskelmassenverlustes korrelierte signifikant mit systemischer Inflammation, hier gemessen mithilfe des C-reaktiven Proteins. Das Inflammation und Infektion mit der Entwicklung von Muskelabbau und Muskelschwäche eng verbunden sind, konnte in vielen Studien gezeigt werden und stellt keinen neuen Befund dieser Arbeit dar. In eigenen Untersuchungen konnten die Autoren aktuell zeigen, dass das AkutPhase-Protein Serum-Amyloid-A1 (SAA1) bei Patienten in der Frühphase­ der kritischen Erkrankung und bei systemischer Inflammation auf dem Sarkolemm akkumuliert und mit der Entwicklung einer Muskelschwäche assoziiert ist [5]. Diese Befunde unterstreichen den Stellenwert der systemischen Inflammation in der Entwicklung eines neruromuskulären Organversagens. Offen bleibt die Frage, inwieweit die Begrenzung des Studieneinschlusses auf Patienten mit der mutmaßlichen Perspektive zu überleben die Aussagekraft der Ergebnisse verfälscht. Darüberhinaus mag sich der Leser darüber wundern, wie in einem Patientenkollektiv, dass durch (Multi-)Organversagen (bis zu 6-fach) charakterisiert ist, eine Überlebensrate­ von 97% beobachtet werden kann. Eine der wesentlichen Limitationen der Studie betrifft damit die Auswahl der Studienpatienten.

Fazit für die Praxis F Die Studie charakterisiert eindrucksvoll pathophysiologische Mechanismen, die im Kontext einer kritischen Erkrankung zum akuten Muskelabbau führen. Der akute Muskelabbau kann als neuromuskuläres Organver-

sagen in Folge einer systemischen   Inflammation verstanden werden. F Für die klinische Praxis ist besonders relevant, dass die zugrunde liegenden Mechanismen schon in den   ersten Tagen nach Beginn einer   kritischen Erkrankung nachweisbar sind und bereits zu diesem Zeitpunkt zu einem messbaren Muskelverlust führen. F Behandlungsstrategien im Sinne einer Prävention des Muskelabbaus existieren derzeit nicht. Es ist unklar, inwieweit eine zielorientierte Ernährungstherapie zu einer Verringerung des Muskelabbaus beitragen kann.

Korrespondenzadresse PD Dr. S. Weber-Carstens Klinik für Anästhesiologie mit Schwerpunkt operative Intensivmedizin, Charité, Campus Virchow-Klinikum und Campus Mitte Augustenburger-Platz 1, 13353 Berlin steffen.weber-carstens@ charite.de

Einhaltung ethischer Richtlinien Interessenkonflikt.  S. Weber-Carstens gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht. Dieser Beitrag beinhaltet keine Studien an Menschen oder Tieren.

Literatur 1. De Jonghe B (2002) Paresis acquired in the intensive care unit: a prospective multicenter study. JAMA 288:2859–2867 2. Herridge MS, Tansey CM, Matté A et al (2011) Functional disability 5 years after acute respiratory distress syndrome. N Engl J Med 364:1293–1304 3. Wollersheim T, Woehlecke J, Krebs M et al (2014) Dynamics of myosin degradation in intensive care unit-acquired weakness during severe critical illness. Intensive Care Med 40:528–538 4. Weber-Carstens S, Schneider J, Wollersheim T et al (2013) Critical illness myopathy and GLUT4: significance of insulin and muscle contraction. Am J Respir Crit Care Med 187:387–396 5. Langhans C, Weber-Carstens S, Schmidt F et al (2014) Inflammation-induced acute phase response in skeletal muscle and critical illness myopathy. PLoS One 9:e92048

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