Medizinrecht Unfallchirurg 2015 · 118:987–990 DOI 10.1007/s00113-015-0069-9 Online publiziert: 6. Oktober 2015 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015

C.Y. Meyer1 · K.F. Braun1 · S. Huber-Wagner1 · J. Neu2 1 Klinik und Poliklinik für Unfallchirurgie, Klinikum rechts der Isar der technischen Universität München,

München, Deutschland 2 Rechtsanwaltskanzlei SWRJ, Hannover, Deutschland

Redaktion

W. Mutschler, München K.-G. Kanz, München J. Neu, Hannover

Kompartmentsyndrom nach Bowlingspiel

Sachverhalt

suchung mit kleinem Blutbild, Bestimmung von C-reaktivem Protein (CRP) und D-Dimeren veranlasst. Letztere waren unauffällig, das CRP jedoch stark erhöht. Hierauf erfolgte ein konsiliarisches Gespräch mit dem Chefarzt der chirurgischen Abteilung eines nahegelegenen Klinikums. Bei Verdacht auf ein Kompartmentsyndrom wurde für den Folgetag die stationäre Aufnahme besprochen. Am Tag der Aufnahme – dem 6. Tag nach dem Bowlingspiel – zeigten sich eine massive Schwellung der Wade, Sensibilitätsstörungen im Ausbreitungsbereich des Wadenbeinnervs und eine Fußheberschwäche. Unter der Diagnose eines Kompartmentsyndroms erfolgte die sofortige Kompartmentspaltung. Im Verlauf waren weitere Eingriffe zur Nekroseresektion und letztlich eine Spalthautdeckung erforderlich. Nach einem stationären Aufenthalt von insgesamt 5 Wochen konnte der Patient mit reizlos verheilten Operationswunden entlassen werden. Es bestanden jedoch nahezu komplette Ausfälle im Ausbreitungsbereich des Wadenbeinnervs. Nach 3 Monaten erfolgte eine 4-wöchige Rehabilitationsbehandlung, die zu einer deutlichen Besserung der Beschwerden führte. Insbesondere die Fußhebung habe sich gebessert (. Tab. 1).

Ein 28-jähriger Mann verspürte beim Bowlingspielen am Samstagabend plötzlich starke Schmerzen in der rechten Wade. Am Folgetag stellte er sich bei einem Allgemeinmediziner im Bereitschaftsdienst vor. Aufgrund von Druck- und Bewegungsschmerzen in der rechten Wade ging dieser von einem Muskelfaserriss aus und legte einen schmerzlindernden Salbenverband an. Weiterhin wurden Voltaren-Tabletten zur Analgesie verschrieben und die lokale Kühlung empfohlen. Aufgrund persistierender Schmerzen erfolgte am 3. Tag die Vorstellung beim niedergelassenen Chirurgen. Auch hier erfolgte die Diagnose eines Muskelfaserrisses ohne Therapieänderung. Laut Untersuchungsbefund zeigte sich am Unterschenkel keine Schwellung oder Rötung bei nur mäßiger Schmerzintensität und daraus resultierender Bewegungseinschränkung im oberen und unteren Sprunggelenk. Am 5. Tag suchte der Patient bei zunehmenden Schmerzen wiederum den Chirurgen auf. Dieser beschrieb nun erstmals starke Schmerzen mit deutlicher Bewegungseinschränkung, eine Fußheberschwäche und eine Verdickung des Wadenumfangs gegenüber der Gegenseite von 2 cm. Es wurde die Verdachtsdiagnose einer tiefen Beinvenenthrombose gestellt und eine laborchemische Unter-

Diese Kasuistik entstammt der gemeinsamen Fallsammlung aller zehn Mitgliedskammern der norddeutschen Schlichtungsstelle in Hannover. Redaktionelle Bearbeitung und Addendum: Christine Y. Meyer, Priv.-Doz. Dr. med. Karl Friedrich Braun, Priv.-Doz. Dr. med. Stefan HuberWagner und RA Dr. jur. Johann Neu.

Beanstandung der ärztlichen Maßnahmen Der Patient sieht eine unzureichende Behandlung durch den niedergelassenen Chirurgen. Insbesondere bemängelt er eine unzureichende und verspätete Reaktion auf die Symptome eines sich entwickelnden Kompartmentsyndroms. Dadurch sei es zu einer verspäteten Opera-

tion mit der Notwendigkeit mehrerer Folgeoperationen und im Verlauf zu ausgedehnten Narbenbildungen mit Muskelteilverlusten sowie neurologischen Ausfallserscheinungen gekommen.

Stellungnahme des Chirurgen Der Chirurg führt in seiner Stellungnahme zu den Vorwürfen aus, dass sich bei der Erstvorstellung am 3. Tag lediglich das Bild einer zuvor erlittenen Muskelfaserrissverletzung geboten habe. Es hätten keine Schwellung oder Sensibilitätsstörungen vorgelegen, lediglich die Funktion sei durch muskuläre Schmerzen beeinträchtigt gewesen. Bei der Vorstellung am 5. Tag habe er zunächst an eine naheliegende Thrombose denken müssen und entsprechende laborchemische Untersuchungen veranlasst. Die bestehende Fußheberschwäche sei nach dem Ergebnis der Laboruntersuchungen Anlass gewesen, mit dem Chefarzt der chirurgischen Abteilung des Klinikums Kontakt aufzunehmen. Dieser habe eine Vorstellung am Folgetag empfohlen. Der niedergelassene Chirurg hätte zu diesem Zeitpunkt auch ein Kompartmentsyndrom in Betracht gezogen.

Externes Gutachten Der von der Schlichtungsstelle beauftragte Gutachter führt aus, dass spätestens am 5. Tag unter den Zeichen von Nervenausfallserscheinungen und deutlicher Schwellung des Unterschenkels zwingend an ein Kompartmentsyndrom hätte gedacht werden müssen. Aufgrund der Angaben des Patienten, dass sich das Beschwerdebild seit dem 3. Tag deut-

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Medizinrecht Tab. 1  Zeitachse mit Darstellung wichtiger Zeitpunkte und -verläufe des Falls Tag 0 Tag 1

Beim Bowlingspielen plötzlich starke Schmerzen in der rechten Wade Vorstellung beim Notfalldienst, Druck- und Bewegungsschmerz in der rechten Wade, Diagnose Muskelfaserriss, schmerzlindernder Salbenverband, VoltarenTabletten, Kühlung Tag 2 Vorstellung wegen weiter bestehender Schmerzen bei einem niedergelassenen Chirurgen, Druck- und Bewegungsschmerz in der rechten Wade, Bewegungseinschränkung in den Fußgelenken, Schmerzhaftigkeit ohne Schwellung und Rötung, Diagnose Muskelfaserriss, schmerz- und entzündungshemmende Medikamente Tag 5 Erneute Vorstellung beim niedergelassenen Chirurgen, Telefonat mit Chefarzt Klinikum, bei Verdacht auf ein Kompartmentsyndrom stationäre Aufnahme für den Folgetag vereinbart Tag 6 Stationäre Aufnahme, sofortige Kompartmentspaltung, ausgedehnte Muskelnekrosen, Vollbild einer Peroneusschädigung infolge Druckwirkung, im Verlauf weitere Nekroseresektionen und Spalthautdeckung Nach 6 Wochen Entlassung aus der stationären Behandlung Nach 6 Monaten Besserung der Fußheberschwäche nach 4-wöchiger Rehabilitationsbehandlung Tab. 2  Ursachen eines akuten Kompartmentsyndroms Unfallbedingt

Vaskulär

Iatrogen

Sonstiges

Frakturen (Schienbein, Unterarm) [4, 9] Quetschverletzungen [4] Einblutungen in Muskellogen [4] Ischämische Reperfusionsschäden [4] Intraoperative Lagerungsschäden (v. a. bei Steinschnittlage) Zirkuläre Brandverletzungen [4] Intramuskuläre Injektion bei antikoagulierten Patienten [4] Intraarterielle Injektion [4] Paravasation bei intraossärer Infusion Paravasation bei Kontrastmittelapplikation [5] Einengende Gipsverbände, Schienen und Verbände [4] Exzessive Muskeltätigkeit (z. B. bei Marathonlauf und längeren Motorradtouren) Anabolika/Steroide Ödeme Intoxikation mit Drogen oder Alkohol (z. B. Lagerungsschaden im Rausch)

lich verschlechtert habe, hätte bereits in den Morgenstunden des 5. Tags bei ambulanter Wiedervorstellung neben einer Thrombose auch ein Kompartmentsyndrom ausgeschlossen werden müssen. Es hätte daher keinen weiteren Zeitverzug mehr geben dürfen. Es sei zu vermuten, dass durch eine um 24 h früher begonnene Therapie ein positiverer Behandlungserfolg des Kompartmentsyndroms möglich gewesen wäre. Genauere Aussagen seien nicht möglich, da sich das Bild des Kompartmentsyndroms sukzessive ab dem 3. Tag gezeigt hätte und in dieser Zeit keine ärztliche Einflussnahme möglich gewesen sei.

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Entscheidung der Schlichtungsstelle Der niedergelassene Chirurg konnte noch am 3. Tag gerechtfertigt von den Folgen eines Muskelfaserrisses ausgehen. Bei Angabe unverändert bestehender Schmerzen war zu diesem Zeitpunkt noch nicht an ein Kompartmentsyndrom zu denken. Ein Kompartmentsyndrom nach Muskelfaserriss ist als Rarität anzusehen. Nur erfahrenste Kliniker, die im Verlauf ihres Berufswegs häufig mit einem Kompartmentsyndrom konfrontiert werden, hätten in dieser Situation bereits weitergehende differenzialdiagnostische Erwägungen getroffen. Von dem niedergelassenen Chirurgen war ein solches gegenüber dem Facharztstandard erhöhtes Spezialwissen, nicht zu fordern.

Fehlerhaft war aber die Reaktion am 5. Tag. Es war gerechtfertigt, an eine Thrombose zu denken und entsprechende klinische, bildgebende und laborchemische Untersuchungen zu veranlassen, aber der Chirurg hätte gleichzeitig bei Fußhebeschwäche mit Schwellung und heftigen Druckschmerzen an ein Kompartmentsyndrom denken müssen. Dieses Wissen war von dem Chirurgen zu verlangen. Da Letzteres aber keinen Zeitverzug zulässt, wäre eine sofortige Einweisung zur Behandlung zu verlangen gewesen. Erst mit erheblichem Zeitverlust hat der Chirurg ein konsiliarisches Gespräch geführt und, wie er selber einräumt, dabei auch ein mögliches Kompartmentsyndrom zur Sprache gebracht. Trotzdem hat er bis zum Folgetag gewartet. Bei der dann am 6. Tag vorgenommenen Operation fanden sich ausgedehnte Muskelnekrosen und das Vollbild einer Peroneusschädigung. Im vorliegenden Fall ist die Frage zu prüfen, ob von einem schweren (groben) Behandlungsfehler auszugehen ist. Ein grober Behandlungsfehler setzt nicht nur einen eindeutigen Verstoß gegen bewährte ärztliche Behandlungsregeln oder gesicherte medizinische Erkenntnisse voraus, sondern erfordert auch die Feststellung, dass ein Fehler vorliegt, der aus objektiver Sicht nicht mehr verständlich erscheint, weil er einem Arzt schlechterdings nicht unterlaufen darf (BGH VersR 2001, 115). Unter Berücksichtigung der Umstände dieses Falls war nach Einschätzung der Schlichtungsstelle von einem groben Fehler auszugehen, da sich das am Morgen des 5. Tags bietende Bild, gleich ob Thromboseverdacht oder Verdacht auf ein Kompartmentsyndrom, zur sofortigen stationären Einweisung durch den niedergelassenen Chirurgen hätte führen müssen. Für die Begründung einer Haftung aus schweren Behandlungsfehlern reicht es grundsätzlich aus, dass der grobe Verstoß des Arztes generell geeignet ist, den konkreten Gesundheitsschaden zu verursachen. Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt. Nach der Vorstellung am Vormittag des 5. Tags sind bis zur fachgerechten Behandlung noch einmal annähernd 24 h vergangen. Als fehlerbedingt sind zunächst die vermehrten Beschwerden bis

Zusammenfassung · Abstract zur Operation zu bewerten. Im weiteren Verlauf war der Zeitraum bereits so lang bemessen, dass er angesichts der bei der von dem niedergelassenen Chirurgen niedergelegten Symptomatik am Vormittag des 5. Tags erfahrungsgemäß zu einem erheblichen Zeitverlust bei der Therapie geführt hat und zu dementsprechenden schädigenden Auswirkungen führte. Das Ausmaß von Folgeschäden wäre durch eine Sofortoperation am gleichen Tag erfahrungsgemäß zu verringern gewesen.

Addendum Akutes Kompartmentsyndrom Das akute Kompartmentsyndrom stellt eine unfallchirurgische Notfallsituation dar, bei der es durch die Gewebedruckerhöhung innerhalb eines oder mehrerer Kompartimente zu Mikroperfusionsschäden und nachfolgender Hypoxie der betroffenen Muskulatur kommen kann. Es ist nach der tiefen Beinvenenthrombose die zweithäufigste Komplikation einer Tibiafraktur [10]. Klinisch zeigt sich oft zunächst eine druckschmerzhafte Weichteilschwellung, gefolgt von einem passiven Muskeldehnungsschmerz. Beim Abtasten fühlt sich das Muskelgewebe oftmals fest an und ist äußerst druckempfindlich. Im weiteren Verlauf tritt ein Ischämieschmerz auf, der gegenüber dem ursprünglichen Trauma oftmals als überproportional stark beschrieben wird und selten auf Analgetika anspricht. In Einzelfällen kann dieser pathognomonische Schmerz jedoch ausbleiben und das Kompartmentsyndrom durch die Schmerztherapie maskiert sein [11]. Jegliche Zeichen von Nervenausfallserscheinungen wie beispielsweise eine Fußheberschwäche sollten differenzialdiagnostisch immer an ein Kompartmentsyndrom denken lassen, das sich bis zu 48 h nach dem Ereignis entwickeln kann [8]. Pathophysiologisch kommt es durch den steigenden Gewebedruck zu einer Verringerung des arteriovenösen Druckgradienten [4].

Ursachen

Anamnestisch sind in der Literatur verschiedenste Ursachen für die Entwicklung eines akuten Kompartmentsyndroms beschrieben (. Tab. 2).

Unfallchirurg 2015 · 118:987–990  DOI 10.1007/s00113-015-0069-9 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015 C.Y. Meyer · K.F. Braun · S. Huber-Wagner · J. Neu

Kompartmentsyndrom nach Bowlingspiel Zusammenfassung Ein 28-jähriger Patient zog sich beim Bowlingspiel eine druckschmerzhafte rechte Wade zu, die zunächst auf einen Muskelfaser­ riss zurückgeführt und entsprechend kon­ servativ behandelt wurde. Am 5. Tag wurden bei beginnender Fußheberschwäche sowie zunehmender Schwellung der rechten Wa­ de differenzialdiagnostisch erstmalig auch ei­ ne tiefe Beinvenenthrombose oder ein Kompartmentsyndrom in Betracht gezogen. Die zu diesem Zeitpunkt erhobene laborchemische Untersuchung wies einen negativen D-Dimer- und stark erhöhten C-reaktivenProtein(CRP)-Wert auf. Bei der am 6. Tag vor­ genommenen Dermatofasziotomie fanden sich bereits ausgedehnte Muskelnekrosen und das Vollbild einer Peroneusschädigung. Im anschließenden Rechtsstreit bemängelte der Patient die unzureichende Reaktion auf die Symptome des sich schleichend entwi-

ckelnden Kompartmentsyndroms. Das Gutachten der Schlichtungsstelle stellte eine fehlerhafte Behandlung im Sinne einer objektiv nicht nachzuvollziehenden Indikationsstellung fest. Das sich am 5. Tag gebotene klinische Bild einer Fußheberschwäche in Kombination mit einer geschwollenen und stark druckschmerzhaften rechten Wade hätte unmittelbar differenzialdiagnostisch an ein Kompartmentsyndrom denken und einen sofortigen Handlungsbedarf nach sich ziehen lassen müssen. Die Schlichtungsstelle führte an, dass dieses Wissen von einem Chirurgen zu verlangen gewesen sei. Schlüsselwörter Arzthaftungsprozess · Behandlungsfehler · Sportunfall · Muskelfaserriss · Volkmann-Kontraktur

Acute compartment syndrome after a bowling game Abstract A 28-year-old male patient was initially conservatively treated by a general physician for muscle strain of the right calf after a bowling game. Due to increasing pain and swelling of the lower leg 5 days later, the differential diagnosis of a deep vein thrombosis was considered. Furthermore, the onset of neurological deficits and problems with raising the foot prompted inclusion of compartment syndrome in the differential diagnosis for the first time. Admission to hospital for surgical intervention was scheduled for the following day. At this point in time the laboratory results showed a negative d-dimer value and greatly increased C-reactive protein level. On day 6 a dermatofasciotomy was performed which revealed extensive muscular necrosis with complete palsy of the peroneal nerve. In the following lawsuit the patient

Klinische Untersuchung

Bei bewusstseinseingetrübten bzw. länger sedierten, intubierten oder beatmeten Traumapatienten erweist sich die klinische Untersuchung wie auch bei Kindern und Dementen oftmals als äußerst schwierig bzw. unmöglich. Eine appara­ tive intrakompartimentelle Druckmessung lässt aufgrund der sehr hohen Sensitivität und Spezifität jedoch eine aus-

accused the surgeon of having misdiagnosed the slow-onset compartment syndrome and thus delaying correct and mandatory treatment. The arbitration board ruled that the surgeon should have performed fasciotomy immediately on day 5 at the patient’s consultation. The clinical presentation of progressive pain, swelling of the lower leg in combination with peroneal palsy must lead to the differential diagnosis of compartment syndrome resulting in adequate therapy. The delay of immediate surgery, therefore, was assessed to be faulty as this knowledge is to be expected of a surgeon. Keywords Medical malpractice claim · Treatment error · Sports injury · Muscle strain · Volkmann’s contracture

sagekräftige Beurteilung hinsichtlich ei­ nes akuten Kompartmentsyndroms zu. Zu beachten ist hierbei, dass für Patienten mit erhöhtem Risiko (.  Tab. 2) eine Überwachung über 24 h empfohlen wird. In unklaren Fällen kann die Druckmesssonde auch für 24 h im betroffenen Kompartiment belassen werden. Druckwer­ te von 30–40 mmHg gehen in den meis­ ten Fällen bereits mit einer Minderversor­ Der Unfallchirurg 11 · 2015 

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Medizinrecht gung der Muskulatur einher. Bei Persistieren eines Drucks über 30 mmHg über 6 h sollte eine operative Dekompression erfolgen. Werte über 50 mmHg sind stets als pathologisch zu werten. Da die Drücke innerhalb eines Kompartiments schwanken können, sollte der Druck v. a. bei bestehender Fraktur mindestens 2-mal in der betroffenen Muskelloge gemessen werden [1, 2, 4, 9]. In der Literatur wird beschrieben, dass bereits in 5–10 cm Entfernung vom Druckmaximum auf Frakturhöhe die Drücke um 20 mmHg niedriger ausfallen können [6]. Auch der Druck in der benachbarten Muskelloge sollte kontrolliert werden [1, 9].

Therapie

Das Behandlungsergebnis hängt maßgeblich von einer schnellen Therapieeinleitung nach Erstdiagnosestellung ab. Klinische Hinweise auf ein akutes Kompartmentsyndrom können verhärtete Muskelgruppen mit passivem Dehnungsschmerz und sichtbarer Schwellung sein [7]. Die Muskelschmerzen lassen sich oft nicht durch Schmerzmedikamente lindern. Da 40 % aller Kompartmentsyndrome in der unteren Extremität auf der Höhe von Fibula und Tibia entstehen, sollte auch insbesondere bei einer Fußheberschwäche an ein Kompartmentsyndrom gedacht werden. Bei klinisch gerechtfertigtem Verdacht sollte der Patient ohne Zeitverzögerung eine operative Druckentlastung durch eine Fasziotomie erhalten. Sofern die Fasziotomie der betroffenen Muskelloge innerhalb der ersten 6–8 h erfolgt, ist der weitere Verlauf häufig komplikationslos. Folgeschäden sind in der Literatur bereits ab einer Verzögerung von wenigen Stunden beschrieben. So sind neuromuskuläre Schäden bereits 8–12 h nach Auftreten der Erstsymptomatik trotz Fasziotomie beschrieben worden. Komplikationen einer zu späten Therapieeinleitung können durch die anhaltende Hypoxie im betroffenen Kompartiment zu Muskelnekrosen führen [1, 2, 4, 9]. Eine Fasziotomie bei bereits bestehenden Muskelnekrosen kann zur schweren Septikämie führen und u. U. eine Amputation nach sich ziehen [3]. Bei einem erforderlichen Débridement sollte stets ein erfahrener Chirurg anwesend sein, um weitere Komplikationen zu vermeiden [7].

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Fazit für die Praxis Unter Berücksichtigung der Umstände dieses Falls war nach Einschätzung der Schlichtungsstelle von einem groben Fehler auszugehen, da sich das am Morgen des 5. Tags bietende Bild, gleich ob Verdacht auf eine Thrombose oder ein Kompartmentsyndrom bestand, zur sofortige Einweisung durch den niedergelassenen Chirurgen hätte führen müssen. Das Kompartmentsyndrom lässt sich bei schneller Diagnosestellung und unverzüglicher Therapieeinleitung innerhalb der ersten 6–8 h prognostisch günstig operativ behandeln. Da es schon nach 8–10 h zu irreversiblen neuromuskulären Schäden kommen kann, ist das akute Kompartmentsyndrom als chirurgischer Notfall zu werten. Therapie der ersten Wahl ist die operative Spaltung aller Muskelfaszien. Bei entsprechenden Befundkonstellationen sollte auch bei leichten Unfällen – wie beispielsweise dem beschriebenen Muskelfaserriss – ein akutes Kompartmentsyndrom differenzialdiagnostisch berücksichtigt werden. Dieser Fall zeigt besonders deutlich, welche haftungsrechtlichen Konsequenzen der Unterschied zwischen einem „einfachen“ Behandlungsfehler (schon die geringste Standardunterschreitung) und einem juristisch als grob einzustufenden Behandlungsfehler (gravierende Standardunterschreitung) haben kann. Hätte es sich um eine einfache Standardunterschreitung gehandelt, wäre möglicherweise nicht zu beweisen gewesen (Beweislast Patient), dass die neuromuskulären Schäden auf den Behandlungsfehler des niedergelassenen Chirurgen zurückzuführen waren (Beweismaß: Gewissheit, die bestehende Zweifel in den Hintergrund treten lässt). Hier lag aber eine erhebliche Standardunterschreitung vor, die im Hinblick auf das Beweismaß nur generell geeignet sein musste, die neuromuskulären Schäden herbeizuführen. Diese generelle Eignung war zu bejahen und reichte aus, die Haftung zu begründen.

Korrespondenzadresse C.Y. Meyer Klinik und Poliklinik für Unfallchirurgie, Klinikum rechts der Isar der technischen Universität München Ismaninger Straße 22 81675 München [email protected]

Einhaltung ethischer Richtlinien Interessenkonflikt.  C.Y. Meyer, K.F. Braun, S. HuberWagner und J. Neu geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht. Dieser Beitrag beinhaltet keine Studien an Menschen oder Tieren.

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[Acute compartment syndrome after a bowling game].

A 28-year-old male patient was initially conservatively treated by a general physician for muscle strain of the right calf after a bowling game. Due t...
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