Schweiz. Ophthal. Ges., 67. Vers., Interlaken 1974 Ophthalmologica, Basel 172: 240 243 (1976)

Akute beidseitige juvenile Makuladegeneration U . WÜTHR1CH

Augenklinik Kantonsspital (Chefarzt: PD Dr. R. K ern), Luzern

Bei einer 22jährigen Studentin traten 6 Tage nach erstmaliger Einnahme eines Ovulationshemmers urtikariaartige Hauteffloreszenzen an beiden Unterschenkeln auf. Nach 2 weiteren Tagen bemerkte sie ein Flimmern vor den Augen und gleichzeitig eine Schwellung der Halslymphknoten. Zudem verschlechterte sich das Sehvermögen beidseits innert Stunden. Aus der früheren Anamnese war bekannt, dass sie vom 1.-5. Lebensjahr gelegentlich unter starken Anfällen von Asthma bronchiale litt. Wie bereits bei der Grossmutter väterlicherseits traten ab dem 15. Lebensjahr gelegentlich Unterschenkelödeme beidseits auf. In einer auswärtigen Klinik wurde damals angiographisch eine Lymphangiopathie gesichert. Ferner wurde eine Allergie auf Hausstaub festgcstellt. Bei der Untersuchung in unserer Klinik wurde beidseits ein nicht korrigierbarer Fernvisus von 0,1 festgestellt. Die Tension lag im Normbereich. Beide Augen waren in den vorderen Segmenten reizfrei und zeigten klare brechende Medien. Die Fundi wiesen beidseits eine leichte Unscharfe des nasalen Papillcnrandes ohne verstärkte Prominenz sowie vorwiegend am hinteren Pol liegende, flau begrenzte, gelblich-weisse, ödemartige Flecken und peripapillär eine verstärkte Streifung der Netzhaut auf. Im Foveagebiet war eine zarte radiäre Fältelung sichtbar. Die Gefässc waren unauffällig. Präretinal konnten keine Glaskörperinfiltrate gesichtet werden. Entsprechend war im Perimeter beidseits ein Zökozentralskotom sichtbar. Fluorcszenzangiographische Bilder zeigten zentral liegende, landkartenartige Flecken, wo in der arteriellen Phase die normale Hintergrundfluorcszenz ausblieb und in der venösen Phase zunehmend konfluierend Fluoreszein austrat. Bei den Allgemeinuntersuchungen konnten lediglich narbige Veränderungen der Tonsillen festgestellt werden. Die Körpertemperatur war subfebril. Hauteffloreszenz und Lymphome konnten nicht mehr gesehen werden. Der Allgemeinzustand war ausser einem fatalistischen und indolenten Verhalten unauffällig. Von den Labor­ untersuchungen resultierten folgende pathologischen Resultate: Leukozyten USOO/mms, Stabkernige 43%, BSG 30/69 mm. Albumine (Serum) 46%, p’-Globulinc 18%, SGOT 108 IE.

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Fallbericht

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A b b .l. Netzhautödem in Rückbildung, beginnende Pigmentation vor allem im Makulagebiet. Abb. 2. Fluoreszenzangiographie. Landkartenartige Gebiete mit Fluoreszein­ austritt am Rande und zentral verzögerter Hintergrundfluoreszenz.

Obschon eine sichere Diagnose fehlte, wurden der Patientin Steroide retrobulbär sowie Ampicillin und Triamcinolon in absteigender Dosierung per os im Sinne einer symptomatischen Therapie verabreicht. Ferner wurden monokulare Sehschul­ übungen durchgeführt. Unter dieser Therapie kam es innerhalb von 2 Monaten zu einem Visusanstieg von 1,0 rechts und 0,8 links für die Ferne und die Nähe ohne Korrektur. Bei der Fundusuntersuchung (Abb. 1) waren zarte Pigmentverschie­ bungen und feinfleckige chorioatrophische Herde sichtbar. Im Fluoreszenzangiogramm (Abb. 2) wurde die Narbenbildung noch verdeutlicht. Das Perimeter und das Amslernetz zeigten lediglich links noch ein kleines Zentralskotom.

Aufgrund der Anamnese, der Befunde und des Verlaufes können wir diesen Fall nicht in ein wohldefiniertes Krankheitsbild einordnen. Wir umschreiben ihn deshalb deskriptiv als «akute beidseitige juvenile Maku­ ladegeneration», solange die Ursache nicht mit Sicherheit festgestellt werden kann. Es fällt auf, dass die Augen keinerlei entzündliche Zeichen zeigten, ausser einem Leakage in der Fluoreszenzangiographie. Das Netz­

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Diskussion

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hautödem bildete sich zurück, ohne die Retina in ihrer Funktion wesent­ lich zu beeinträchtigen, was durch ein Elektroretinogramm und die Dunkeladaptationsprüfung bestätigt wurde. Wir halten somit eine Uveitis im üblichen Sinne für unwahrscheinlich. Wird ein degeneratives Leiden in Betracht gezogen, so müsste aufgrund der möglichen Reversibilität und der Beidseitigkeit vor allem an eine Makuladegeneration vom Typ Stargardt-Behr gedacht werden. Der Aspekt und Verlauf ist jedoch nicht entsprechend. Ferner fehlt diesbezüglich eine Heredität. Dagegen lässt sich das Zustandekommen der Netzhautödeme theoretisch gut mit einer Undichtigkeit der Kapillaren erklären, wie sie allgemein bei allergischen Sofortreaktionen gesehen wird. Die Anamnese, in welcher allergische Erkrankungen eine bedeutende Rolle spielen, und die gleichzeitig mit den Augensymptomen aufgetretene Urtikaria unterstützen diesen Verdacht. Es liegen jedoch auch Argumente für das Vorliegen einer Zirkulations­ störung vor. Einerseits wird von verschiedenen Autoren [F lynn und E sterly, 1966; G oren , 1967; Smith und K reiger, 1970; H ollwich und V erbeck, 1969, u.a.] von Komplikationen durch Ovulationshemmer be­ richtet, die teilweise aus ähnlichen, meist einseitigen Netzhautödemen bestehen. Diese zeigen vollständige Reversibilität und eine Reproduzier­ barkeit. Anderseits wurde von F öldi [1970, 1971] aufgrund von Tier­ versuchen und klinischen Studien über die Insuffizienz des zervikalen Lymphgefässsystems berichtet. Die in diesem Zusammenhang beschrie­ bene lymphostatische Ophthalmopathie weist neben fakultativen Sympto­ men, wie Lidödem, Kopfschmerzen und Netzhautblutungen, einige Über­ einstimmungen mit unseren Befunden auf: nasale Unschärfe der Papille, peripapilläre Streifung der Netzhaut und beidseitiges Netzhautödem am hinteren Pol. Als Zeichen einer lymphostatischen Enzephalopathie könnte die anfänglich vorhandene Apathie verstanden werden. Nach der Mei­ nung des Autors kommen eine Tonsillitis, Sinusitis oder Erkältungskrank­ heiten als auslösender Faktor in Frage. Ferner zitiert er andere Autoren, die auch das Zustandekommen eines Pseudotumors cerebri auf eine In­ suffizienz des zervikalen Lymphsystems zurückführen und die unter ande­ rem ein allergisches Geschehen oder die Einnahme von oralen Antikonzeptiva als auslösende Faktoren in Betracht ziehen. Diese Auffassung deckt sich mit der von A rbenz [1965] bei zwei Allergikerinnen gemach­ ten Feststellung, dass nach Einnahme von Ovulationshemmern ein Pseudo­ tumor cerebri auftrat. Man könnte somit zum Schlüsse kommen, dass bei unserer Patientin, die eine gesicherte Lymphangiopathie der Unterschenkel aufwies, auch

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eine latente zervikale Lymphgefässinsuffizienz vorhanden war. Diese dekompensierte durch ein allergisches Geschehen und führte zur be­ schriebenen Symptomatik. Bezüglich der klinischen und fluoreszenzangiographischen Merkmale entspricht der beschriebene Fall der erstmals 1968 von G ass und in jüngster Zeit immer zahlreicher beschriebenen «acute posterior multi­ focal placoid pigment epitheliopathy». Anamnestisch bestehen wesent­ liche Differenzen. Literatur A rbenz, J. P. und Wormser, P.: Pseudotumor cerebri durch Sexualhormone. Schweiz,

mcd. Wschr. 95: 1654 (1965). F lynn, M. A. and Esterly, D. B.: Ocular manifestations after Enovid. Am. J. Ophthal.

61: 907 (1966). Földi, M.: Über die Insuffizienz des cervicalen Lymphgefäss-Systems. Herz-Kreisl. 2: 375 383 (1970). F öldi, M.: Erkrankungen des Lymphsystems (Witzstrock, Baden-Baden 1971). G ass, J. D. M.: Acute posterior multifocal placoid pigment epitheliopathy. Archs Oph­ thal., Chicago 80: 177 (1968). G oren, S. B.: Retinal edema secondary to oral contraceptives. Am. J. Ophthal. 64: 447 (1967). H ollwich , F. und Verbeck, B.: Nebenwirkungen der Ovulationshemmer am Auge. Dt. med. Wschr. 94: 1761 (1969). S mith, M. S. and K reiger, A.: Visual loss associated with oral contraceptives. Am. J. Ophthal. 69: 874 (1970).

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Dr. U. WÜTHRICH, Obere Bergstrasse 9, CH-6004 Luzern (Schweiz)

[Acute bilateral juvenile macular degeneration].

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