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M. Gaucher und Imiglucerase 2009/2010: Was leitet eine plötzlich erzwungene Priorisierung? Gaucher’s Disease and Imiglucerase in 2009/2010: What Leads to a Suddenly Enforced Prioritisation?

Institute

Schlüsselwörter ▶ Morbus Gaucher ● ▶ Priorisierung ● ▶ Rationierung ● ▶ Lieferengpass ● Key words ▶ Gaucher’s disease ● ▶ prioritization ● ▶ rationing ● ▶ supply and delivery ● problems

Bibliografie DOI http://dx.doi.org/ 10.1055/s-0034-1370997 Online-Publikation: 26.3.2014 Gesundheitswesen 2015; 77: 86–92 © Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York ISSN 0941-3790

K. Hofstetter1, H. Raspe2, S. Stumpf2, S. Framke3 1

Fachbereich Maschinenbau und Wirtschaft, Vertiefungsrichtung Gesundheitswirtschaft, Fachhochschule Lübeck, Lübeck Institut für Sozialmedizin und Epidemiologie, Universität zu Lübeck, Lübeck 3 Fachbereich Maschinenbau und Wirtschaft, Vertiefungsrichtung Gesundheitswirtschaft, Fachhochschule Lübeck, Lübeck 2

Zusammenfassung

Abstract

Der M. Gaucher ist eine unbehandelt meist progrediente, in bestimmten Formen auch lebensbedrohliche lysosomale Speicherkrankheit; sie beruht auf einem angeborenen Mangel an saurer beta-Glucocerebrosidase. Dieser lässt sich durch eine spezifische Enzymsubstitution ausgleichen. Die Therapie hat das Potenzial, die Krankheit in die Remission zu bringen und das Leben der Kranken zu normalisieren. Im Juni 2009 gab der Hersteller des ersten und damals einzigen Ersatzpräparats (Cerezyme®) unvermittelt bekannt, dass aufgrund einer Virusinfektion seiner Bioreaktoren die Produktion von Imiglucerase kurzfristig eingestellt werden müsse. Danach konnte die Firma Genzyme weltweit teilweise nur noch 20 % der ursprünglich ausgelieferten Menge bereitstellen. Die Situation normalisierte sich erst wieder Anfang des Jahres 2011. In Folge dieser unerwarteten Knappheit mussten die relevanten Akteure sehr rasch und unvorbereitet klären, welche Patientengruppen und Krankheitszustände prioritär versorgt werden sollten und wem welche Imiglucerase-Rationen zuzuteilen wären. Diese kurzfristig erzwungene Priorisierung und Rationierung erlaubt die Beschreibung und Analyse der von den Akteuren spontan gewählten Kriterien. Sie gibt Aufschluss über die gemeinsam präferierten Werte der Patienten, Patientenorganisation, Kliniker und Hersteller. Zur Rekonstruktion der Ereignis- und Reaktionskette und der in ihr sichtbar werdenden Kriterien- und Wertpräferenzen wurden in Deutschland halbstandardisierte Interviews geführt. Sehr klar zeigte sich eine enge spontane Orientierung an einem medizinischen Bedarfsund einem gesellschaftlichen Solidaritätsprinzip.

Gaucher’s disease is, when left untreated, a progressive and in some subsets even life-threatening lysosomal storage disease. It is caused by a genetically linked deficit of acid beta-glucocerebrosidase. The enzyme can be replaced by Cerezyme®/imiglucerase produced by Genzyme Corp. The therapy has the potential to induce remission and normalise the patient’s life. In June 2009 Genzyme had to announce a viral contamination of its bioreactors which led to a sudden stop of the entire production of imiglucerase. Subsequently only 50–20 % of the former supply could be provided worldwide. The situation was not normalised until the beginning of the year 2011. Due to this unexpected shortage the relevant actors had to clarify quickly and unprepared which patient groups to prioritise and whom to supply with what quantities of imiglucerase. The shortly enforced prioritisation and rationing provide an opportunity to describe and analyse the spontaneously choosen prioritisation criteria and reveal value preferences shared by clinicians, patients, patient representatives, and company representatives. To reconstruct the chain of events and reactions and the revealed criteria and value preferences partly standardised interviews with representatives of the relevant stakeholder groups were conducted. Very clearly, the actors spontaneously chose to follow a medical need and a social solidarity principle.



Korrespondenzadresse Karoline Hofstetter, M. A. [email protected] Hofstetter K et al. M. Gaucher und Imiglucerase … Gesundheitswesen 2015; 77: 86–92



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Autoren

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Der M. Gaucher ist eine seltene Erkrankung; in Deutschland dürften rund 300 Patienten bekannt sein. Dieser lysosomalen Speicherkrankheit liegt ein genetisch heterogener Enzymdefekt mit inzwischen über 300 bekannten Mutationen zugrunde. In variablem Ausmaß fehlt es an saurer beta-Glucocerebrosidase zum Abbau von Zellwand-Glykolipiden. Daher kommt es zur zunehmenden Ansammlung von Glucocerebrosiden in Makrophagen und Monozyten. Bevorzugte Manifestationsorgane sind Leber, Milz, Knochenmark und je nach Subtyp auch das zentrale Nervensystem – mit unterschiedlich weitreichenden Folgen für das (Über)Leben, die Lebensqualität und die soziale Teilhabe der Betroffenen [1]. Seit 1991 ist die Behandlung des M. Gaucher durch eine dauerhafte Enzymsubstitution möglich; seit 1994 wird hierzu weltweit das gentechnisch hergestellte Präparat Imiglucerase (Cerezyme®) verwendet, das (ebenso wie jüngste Folgepräparate) lebenslang etwa alle 14 Tage intravenös zu verabreichen ist. Imiglucerase kann eingetretene Organveränderungen und ihre Folgen zurückbilden, das Allgemeinbefinden bessern, das Fortschreiten der Krankheit verhindern und damit den Patienten oft ein annähernd normales Leben ermöglichen. Unbehandelt wäre bei klinisch manifesten Fällen mit einer progredienten Verschlechterung von Befinden und Befunden zu rechnen, bei den selteneren Krankheitsformen des Säuglings- und Kindesalters (Typ II; Typ IIIa und b) bis hin zum Tod [2]. Es wird geschätzt, dass von den o.g. 300 Patienten rund 250 eine Enzymersatztherapie in Anspruch nehmen. Im Juni 2009 gab der Imiglucerase-Hersteller Genzyme bekannt, dass die Produktion dieses Präparats aufgrund einer Virusinfektion eines Bioreaktors im Werk Allston Landing in Massachusetts (USA) befristet eingestellt werden müsse. Die komplette Anlage musste dekontaminiert, der Inhalt aller Bioreaktoren verworfen werden. Imiglucerase, damals noch das einzige Enzymersatzpräparat, stand danach weltweit und über längere Zeit nur in reduziertem Umfang zur Verfügung. Zeitweise konnten (ab August 2009) nur noch 20 % der bisherigen Menge geliefert werden [3].

In Folge dieser unerwarteten Knappheit musste geklärt werden, welche Patienten und Krankheitszustände prioritär versorgt werden sollten und wem welche Imiglucerase-Rationen zuzuteilen wären (eine Übersicht über die zeitliche Abfolge der Ereig▶ Tab. 1). nisse zwischen Juni 2009 und September 2011 gibt ● Unser Text folgt dieser erzwungenen und unvorbereiteten Priorisierung und Rationierung und versucht, die in Deutschland folgenden Prozesse und Entscheidungen samt der in ihnen wirksamen Ziele, Werte und Kriterien zu rekonstruieren. Dies geschieht vor dem Hintergrund der in Europa seit Jahrzehnten, nachweisbaren (in Deutschland aktiv beschwiegenen [4]) Priorisierungsdiskussion und auf dem Boden eigener Dokumentenanalysen und Experteninterviews in den Jahren 2011 und 2012.

Die europäische Diskussion zur Priorisierung in der Medizin seit 1985



Die europäische Priorisierungsdiskussion begann (mit Vorläufern in England [5] und Dänemark [6]) im Frühjahr 1985 in Norwegen mit der Gründung einer staatlichen Kommission durch die damalige Sozialministerin. Deren Leitung wurde dem Osloer Theologen Inge Lønning übertragen [7], das sog. Lønning-I-Komitee veröffentlichte 1987 „Guidelines for Prioritizations in the Norwegian health service“. Als nächstes Land etablierte Holland 1990 eine ähnliche Kommission (Dunning-Komitee). Schließlich folgten Schweden 1992 mit der Einsetzung einer Parlamentskommission und Dänemark 1996 mit einer Stellungnahme seines ethischen Rats. Die nach unserer Kenntnis ersten deutschen Veröffentlichungen zum Thema erschienen 1997 [8]. In den Jahren 2000 und 2007 unternahm die Zentrale Ethikkommission bei der Bundesärztekammer (ZEKO) 2 annähernd erfolglose Versuche, eine nationale Diskussion in Gang zu setzen. Unter anderem ist der ZEKO Anstöße zu einer Definition von Priorisierung zu verdanken, die heute folgendermaßen formuliert wird: Allgemein lässt sich Priorisierung definieren als die ausdrückliche Feststellung der Rangfolge aller Elemente einer bestimmten

Tab. 1 Chronologie der Lieferengpässe für Imiglucerase (Cerenzyme®). Datum

Ereignis

17. Juni 2009

Genzyme informiert über eine Viruskontamination im Allston Werk. Geschätzte 20–40 % der produzierten Imiglucerase sind unbrauchbar. Aus Sicherheitsgründen werden sämtliche Vorräte an Cerezyme® zurückgehalten. Verschärfung des Lieferengpasses. Lediglich 20 % des weltweiten Bedarfs können gedeckt werden. (Grund: Vorräte sind ebenfalls kontaminiert). Genzyme kündigt Deckung des 100 %igen Bedarfs für Anfang 2010 an. Genzyme informiert über Lieferverzögerungen, die aber ohne Auswirkung bleiben. (Grund: logistische Probleme). Genzyme kündigt zukünftige Probleme bei Auslieferung an. (Grund: Freigabeverzögerungen für die Abfüllanlage in Irland). Genzyme informiert über erneute Reduzierung des Angebotes auf 50 % für voraussichtlich maximal 8 Wochen. (Grund: Aufbau eines Lagerbestandes). Genzyme informiert über die 100 %ige Wiederaufnahme der Versorgung in 4 Tagen und über den Erfolg beim Aufbau eines kleinen Vorrats. Es kommt erneut zu Lieferverzögerungen. (Grund: Aschewolke über Nordeuropa nach Vulkanausbruch auf Island). Auslieferung wird wieder aufgenommen. Versorgung liegt bei 100 %. Genzyme informiert über erneute Reduzierung des Angebotes auf 50 %. (Grund: Störung in der Wasser- und Stromversorgung). Angebotsmenge steigt von 50 % auf 85 % an. Genzyme kündigt Versorgung „über Plan“ an. Für Dezember wird 100 %ige Versorgung im üblichen 2-Wochen-Rhythmus avisiert, anschließend wieder 3-Monats-Rhythmus. Genzyme weist auf weitere mögliche Lieferverzögerungen bis zur Fertigstellung des neuen Werkes in Framingham bis Ende 2011 hin. Genzyme informiert über erneute Lieferverzögerungen (Grund: Freigabeverzögerungen). Auslieferung wieder 100 %. Genzyme informiert über erneute Verzögerungen bei der Auslieferung von Cerezyme®. Vollständige Normalisierung der Auslieferungen.

14. August 2009 1. Dezember 2009 6. Februar 2010 11. Februar 2010 17. Februar 2010 15. April 2010 16. April 2010 20. April 2010 22. April 2010 1. Oktober 2010 24. November 2010 21. Januar 2011 7. März 2011 21. März 2011 26. August 2011 ab 29. September 2011 Quelle: Eigene Darstellung

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Hintergrund

Menge von miteinander zu vergleichenden Objekten. In der Medizin kann es sich dabei um Gesundheits- oder Versorgungsziele, um Kranken- oder Krankheitsgruppen, Untersuchungs- und Behandlungsmethoden, um einzelne Krankheitsfälle und auch um Indikationen handeln. Grundsätzlich führt Priorisierung zu einer mehrstufigen Rangreihe. An deren oberen Ende steht, was nach Maßgabe gesellschaftlich geklärter Ziele, Werte, Normen und Kriterien sowie nach Datenlage und fachlichem Konsens als dringend behandlungsbedürftig oder unverzichtbar eingeschätzt wird, am Ende das, was keiner medizinisch-klinischen Behandlung bedarf, kaum oder nicht wirkt bzw. mehr schadet als nützt. Priorisierung nach einem schwedischen Modell endet in begründeten Empfehlungen, die Allokationsentscheidungen Dritter informieren – aber nicht vorwegnehmen [9]. Ähnlich resonanzlos blieb auch der Arbeitsbericht der Enquetekommission des Bundestages zu Ethik und Recht in der modernen Medizin 2005 [10]. Erst die Eröffnungsrede von Prof. Hoppe, damals Präsident der Bundesärztekammer, zum 112. Deutschen Ärztetag im Mai 2009 in Mainz änderte die Situation. Innerhalb von wenigen Tagen kam es (in diesem Bundestagswahljahr) zu der größten denkbaren Koalition aller politischen Parteien, des BMG und der verschiedenen Spitzenverbände der Gesetzlichen Krankenversicherung [11]. Diverse Gründe wurden genannt, warum schon die Diskussion über Priorisierung inakzeptabel sei. Die ehemalige Gesundheitsministerin Ulla Schmidt bezeichnete alleine schon die Beschäftigung mit der Thematik der Priorisierung als „menschenverachtend“ [12]. Im Februar 2010 gab auch der damalige Gesundheitsminister Dr. Rösler in einem DÄB-Interview an, er sei „…nicht bereit, diese Diskussion zu führen“ [13]. In Schweden begann „diese Diskussion“ vor mehr als 20 Jahren (1992) offiziell mit der Gründung einer Parlamentskommission; Schweden ist das europäische Land, in dem sie nahezu kontinuierlich fortgeführt wurde. Hier wurde das Priorisierungsprojekt seit 2004 durch die Erarbeitung einer Reihe von Leitlinien zu einer „vertikalen“ Priorisierung innerhalb definierter Krankheitsund Versorgungsbereichen auch versorgungswirksam [14]. Heute existiert ein weit entwickeltes und vielfach erprobtes „Nationales Modell für eine transparente Priorisierung in der gesundheitlichen Versorgung Schwedens“ [15]. Am Anfang dieser Entwicklung ging es der Parlamentskommission um die Etablierung einer soliden ethischen Plattform [16], die sich noch einmal der nationalen Moralität vergewisserte und diese bekräftigte; sie formulierte „in ranking order“ 3 maßgebende Prinzipien: Menschenwürde (Diskriminierungsverbot),

Bedarf und Solidarität sowie Kosteneffizienz. Ähnliche Klärungen der ihren nationalen Priorisierungen zugrunde zu legenden Moralitäten waren mit länderspezifischen Unterschieden auch in Norwegen, Holland und Dänemark zu beobachten. Dies macht es wenig plausibel, Priorisierung in der Medizin eo ipso für unethisch zu halten. Die Bemühungen um ihre ethische Fundierung weisen allerdings darauf hin, dass Priorisierung ethisch nicht neutral ist; sie berührt die Frage, wie Bürger in dieser oder jener Gesellschaft leben, mit einander umgehen und wie sie darüber entscheiden wollen. Wie gesagt sollte in Deutschland noch 2010 nicht ausdrücklich und offen über Priorisierung gesprochen werden, da sie vor allem auch unethisch sei. Umso spannender ist vor diesem Hintergrund die Frage, wie mit der – zur gleichen Zeit auftretenden – plötzlichen und unvorhersehbaren Knappheit des für manche Menschen lebenswichtigen Arzneimittels Cerezyme® in Deutschland umgegangen wurde. Welche ethischen Werte, welche Kriterien wurden unvermittelt/spontan wirksam, ohne dass die damals Handelnden Zeit hatten, dies durch Kommissionen klären zu lassen oder selbst lange zu überlegen.

Material und Methoden



Unsere Darstellung und Analyse beruht auf einer Reihe von halbstandardisierten Experteninterviews zwischen August und November 2011. Sie wurden mit 4 Ärzten aus Gaucher-Behandlungszentren (Hamburg, Köln, Mainz, Oberhausen), einem Vertreter der Firma Genzyme, 3 Gaucher-Patienten sowie einem führenden Vertreter ihrer Patientenorganisation und zugleich der European Gaucher Alliance durchgeführt (Dauer 30–90 min). Die Interviews erfolgten teils telefonisch, teils in direktem Kon▶ Tab. 2). Sie wurden in ihren zentralen Passagen schrifttakt (● lich protokolliert und zusätzlich digital aufgezeichnet und auf unsere Fragestellungen fokussierend ausgewertet. Daneben wurden wissenschaftliche und an Laien gerichtete Veröffentlichungen berücksichtigt, im Internet zugängliche Verlautbarungen sowie Leitlinien (Näheres im Text).

Ergebnisse



Am 17. Juni 2009, kurz nach Auftreten des Lieferengpasses, informierte Genzyme Deutschland die Ärzte der 9 nationalen Gaucher-Zentren über die aktuelle Knappheit. 2 Tage später organisierte Genzyme eine nationale Telefonkonferenz, an der das

Tab. 2 Interviewpartner. Nr.

Datum und Art des Interviews

Position

1 2 3 4 5

21.10.2011 telefonisch 24.10.2011 telefonisch 16.11.2011 telefonisch 06.11.2011 telefonisch 19.10.2011 persönlich 02.09.2011 persönlich 15.11.2011 persönlich 29.08.2011 telefonisch 05.09.2011 telefonisch

Patient Patient Patient Facharzt für Innere Medizin und Gastroenterologie in Oberhausen Facharzt für Innere Medizin und Gastroenterologie in Köln, Mitglied der EWGGD Facharzt für Gastroenterologie in Hamburg

6 7 8 9

Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin in Mainz stellvertretender Vorstandsvorsitzender der GGD, Vorstandsmitglied der European Gaucher Alliance (EGA) Direktor Lysosomale Speicherkrankheiten; Produktmanagerin Lysosomale Speicherkrankheiten

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Die Versorgungsentwicklung während des Lieferengpasses



In der Entwicklung der Versorgungskrise lassen sich verschiedene Phasen unterscheiden:

Versorgungslage und -konzept für den Zeitraum August–Dezember 2009 In der ersten Phase standen aufgrund der Virusinfektion ab August 2009 nur knapp 20 % des benötigten Enzyms für den Weltmarkt zur Verfügung. Auf die Notfall-Liste wurden daraufhin erstmals Ende August 2009 nur lebensbedrohlich Erkrankte, gefährdete Kinder und Jugendliche – wenn vertretbar in reduzierter Dosis – sowie schwangere Frauen aufgenommen. Nachdem diese Patientengruppe versorgt werden konnte, wurde darüber hinaus zur Verfügung stehendes Cerezyme® Patienten mit schweren oder bedrohlichen Krankheitsmanifestationen wie z. B. akuter Blutungsneigung oder Knocheninfarkten und Patienten, deren Zustand sich während der Therapiepause deutlich verschlechtert hatte, angeboten [19].

Zusätzlich wurde den aktuell nicht versorgten Patienten empfohlen, sich alle 3 Monate einem Facharzt vorzustellen, um mögliche Komplikationen frühzeitig zu erkennen. Niedergelassene Ärzte wurden von den Gaucher-Zentren angeschrieben und eingeladen, kostenlos Blut zur Bestimmung des Chitotriosidasewertes (Marker des Krankheitsverlaufs) in das Gaucher-Zentrum nach Mainz zu schicken. Auch für den Fall klinischer Verschlechterungen bei ihren Patienten wurde die Kooperation mit einem Gaucher-Zentrum empfohlen. Rund 90 % der kontaktierten Ärzte nutzten diese Möglichkeit [18].

Versorgungslage und -konzept für den Zeitraum Januar–September 2010 Die Enzymversorgung entspannte sich Anfang des Jahres 2010; alle Patienten konnten kurzzeitig wieder zu 100 % mit Cerezyme® versorgt werden. Im Februar 2010 verkündete Genzyme, dass es einen kleinen Vorrat aufbauen wolle, „um zukünftig etwaige Verzögerungen aufgrund der weltweit gestiegenen Anfrage befriedigen zu können [20]“. Daher sei eine erneute Reduzierung des Enzymangebots auf 50 % für die Dauer von voraussichtlich 8 Wochen zu erwarten. Allerdings behinderte ab Mitte April eine Aschewolke den Flugverkehr über Nordeuropa, was erneute Verzögerungen bei der Auslieferung von Cerezyme® zur Folge hatte. Wenig später, am 22. April 2010, wurde dann aufgrund einer Störung in der Wasser- und Stromversorgung im zuerst genannten Werk das Angebot an Cerezyme® auf wieder 50 % redu▶ Tab. 2). ziert; der Engpass sollte bis Oktober 2010 andauern (● Während die Notfallliste anfangs nur die besonders gefährdeten oder belasteten Patienten aufführte, wurden zwischen März und September 2010 alle in Deutschland bekannten Gaucher-Patienten je nach Krankheitszustand mit abnehmender Priorität aufgenommen. Zwar wurden die Patienten, die ursprünglich auf der Notfall-Liste standen, weiter prioritär versorgt, aber auch die Patienten, die zuvor nicht versorgt werden konnten, erhielten jetzt – abhängig von ihrem Zustand – zumindest eine reduzierte Dosis von Cerezyme®. Damit kann die Notfallliste als Priorisierungsempfehlung verstanden werden, die alle Fälle nach Wichtigkeit und Dringlichkeit geordnet aufführte. Die Liste wurde von den Patienten angeführt, die gemessen an der Schwere und Gefährlichkeit ihres Zustands essentiell auf Cerezyme® angewiesen waren, an ihrem Ende standen diejenigen, die am ehesten auf das Medikament verzichten konnten. Innerhalb der Liste wurden die Patienten 4 verschiedenen Strata zugeordnet: Höchste Priorität genossen die lebensbedrohlich Kranken und schwangere Frauen (Stufe 1). Der Stufe 2 wurden Kinder, Jugendliche und Patienten des Typs III zugeordnet; sie erhielten das Enzym, nachdem der Bedarf auf Stufe 1 abgedeckt war, wenn medizinisch vertretbar in einer reduzierten Dosis. Patienten der Stufe 1 und Stufe 2 waren identisch mit den Schwerstbetroffenen der ersten Notfall-Liste. Auf der Stufe 3 befanden sich Patienten mit Knochenerkrankungen und -schmerzen und später auch solche, deren Zustand sich aufgrund der Therapiepause verschlechtert hatte. Die Stufe 4 erfasste Patienten mit leichterem und stabilem Krankheitsverlauf, die nicht zwingend auf eine Ersatztherapie angewiesen zu sein schienen. Die Position der einzelnen Patienten auf der Notfall-Liste konnte sich aufgrund laborchemischer oder klinischer Verschlechterung in jede Richtung verändern [18].

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Ärztenetzwerk der Gaucher-Zentren unter der Federführung der Arbeitsgemeinschaft für angeborene Stoffwechselstörungen in der Inneren Medizin (ASIM) und Vertreter der Patientenorganisation Gaucher Gesellschaft Deutschland e.V. (GGD) teilnahmen. Alle Ärzte des Netzwerkes waren sich, so wurde berichtet, einig, dass eine Priorisierung zur Vorbereitung einer harten Rationierung unausweichlich sei, damit eine kontinuierliche Enzymversorgung wenigstens der am meisten gefährdeten Patienten sichergestellt werde. Unterdessen kam es im August 2009 zu der weiteren Zuspitzung der Versorgungssituation [17]. Um eine möglichst bedarfsgerechte und gleichmäßige Versorgung zu gewährleisten, übernahm das Gaucher-Zentrum Mainz die nationale Organisation. Die Umsetzung gelang unter der Zuhilfenahme einer zentralen Notfall-Liste, auf welche die aus Sicht der einzelnen Zentren besonders gefährdeten und daher prioritär zu behandelnden Patienten aufgenommen wurden. Zu dieser Patientengruppe zählten zunächst Säuglinge, Kinder und Jugendliche sowie erwachsene Patienten mit einem progressiven Krankheitsverlauf. Das Gaucher-Zentrum Mainz erhielt direkt von Genzyme die für Deutschland zugeteilten Mengen vom Präparat Cerezyme®. Blieb nach der monatlichen Zuteilung des Medikaments noch ein Restbestand, wurde dieser zurückbehalten. Dadurch wurde erleichtert, dass Patienten auf der Notfall-Liste kontinuierlich mit dem benötigten Medikament versorgt werden konnten. Zur Aufnahme auf die Notfall-Liste stellte der niedergelassene Arzt eine Anfrage an das behandelnde Gaucher-Zentrum des jeweiligen Patienten. Der Zentrums-Arzt prüfte die vorab gemeinsam ausgearbeiteten Kriterien. Waren die Kriterien seitens des Patienten erfüllt, wurde das Gaucher-Zentrum in Mainz informiert und der Patient dort mit auf die Notfall-Liste gesetzt. Damit erhielt er auch eine Identifikationsnummer, die dem niedergelassenen Arzt mitgeteilt wurde. Der Patient bekam sein Medikament über eine Apotheke seiner Wahl. Sein Rezept dafür erhielt er vom niedergelassenen Arzt. Das Rezept war mit der genannten Kennziffer versehen. Die Apotheke übermittelte das Rezept an das Mainzer Gaucher-Zentrum. Dort wurde die Kennziffer überprüft und das Medikament an die Apotheke ausgeliefert, die es dem Patienten aushändigte [18].

Versorgungslage und -konzept für den Zeitraum September–Dezember 2010 Nachdem sich Ende September 2010 die Versorgungslage in Deutschland erneut entspannt hatte und Genzyme in der Lage war, 85 % des weltweiten Bedarfs zu decken, einigten sich die Gaucher-Zentren auf ein neues Versorgungskonzept. Dies sah vor, die 26 am schwersten betroffenen Patienten der Stufen 1, 2 oder 3 der erweiterten Liste unverändert in 14-tägigen Abständen mit der vollen bzw. – wenn medizinisch vertretbar – einer reduzierten Dosis zu behandeln und alle anderen Patienten im Abstand von 3 Wochen mit ihrer regulären Cerezyme®-Dosis zu versorgen [21]. Dieses Versorgungskonzept galt bis Anfang des Jahres 2011. Danach war Genzyme wieder in der Lage, 100 % des vormaligen Cerezyme®-Bedarfs zu decken. Allerdings kam es seitdem mehrfach zu verzögerten Auslieferungen, die auf Freigabe- und logistische Problemen zurückgeführt wurden. Im November 2011 konnte Genzyme schätzungsweise 60–70 % des Bedarfs decken. Trotzdem entschieden sich die Ärzte gegen die Wiederbelebung der ersten Notfall-Liste, da der entstandene Versorgungsengpass durch das mittlerweile zugelassene Präparat VPRIV® ausgeglichen werden könne [18].

Beurteilungen der umgesetzten Maßnahmen aus Sicht der Ärzte, Patientenvertreter und Patienten



Alle von der prekären Versorgungssituation Betroffenen – also Hersteller, Patienten, Patientenvertreter, Behörden und insbesondere die Ärzte der insgesamt 9 Gaucher-Behandlungszentren – zeigten in der Bewältigung der Versorgungskrise ein starkes Verantwortungsbewusstsein. Dies belegen ihre sofortigen Reaktionen, ihre andauernde enge Kooperation und Abstimmung und die Zurückstellung möglicher Interessenkonflikte. Die 4 interviewten Ärzte waren sich einig: der Prozess der Priorisierung und Rationierung sei sehr zufriedenstellend und effektiv gestaltet worden – auf der Basis einer jahrelangen engen Zusammenarbeit innerhalb eines bereits funktionierenden Netzwerks. Zwar gab es für Deutschland keine schriftliche Ausformulierung der oben geschilderten Versorgungskonzepte, dennoch wusste jeder Arzt, was zu tun war. Die Patienten selbst brachten großes Verständnis für die Knappheitssituation auf und akzeptierten die Option der Ärzteschaft für die Schwerstbetroffenen. Sie erkannten an, dass die Ärzte versuchten, eine möglichst bedarfsund verteilungsgerechte Patientenversorgung zu gewährleisten. Ein Patient, der über Monate die Enzymersatztherapie unterbrechen musste, sagte zur Situation der Ärzte: „wem sag ich ab, wer kriegt noch was […] das stell ich mir auch nicht so leicht vor“. Der stellvertretende Vorsitzende der GGD berichtete, dass „die Situation teilweise sehr dramatisch war“. Trotzdem schienen sich die Patienten mit der Situation arrangieren zu können, denn weiter schildert er: „es gab keinerlei Klagen, es gab keinerlei Prozesse, es gab keinerlei Druck [22]“. Soweit bekannt, drohte kein Patient (und auch kein Angehöriger oder peripher behandelnder Arzt) den Zentrumsärzten mit z. B. rechtlichen Konsequenzen, um für sich selbst einen besonderen Vorteil zu erwirken. Vermutlich hätten entsprechende Klagen Erfolg gehabt, jedenfalls hätten sie das Konzept der ersten Notfall-Liste in Gefahr bringen können. Auch und gerade Kranke mit einer seltenen schweren Erkrankung haben nach Maßgabe unseres Sozialrechts Anspruch auf eine bedarfsgerechte Behandlung; und dieses Prinzip ist durch den sog. Nikolausbeschluss des Bundesverfassungsge-

richts vom 6.12.2005 noch einmal gestärkt worden (1 BvR 347/98). Es ist aus unserer Sicht bemerkenswert, dass sich keine der denkbaren Behörden wie z. B. das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) oder das Bundes- oder ein Landesministerium für Gesundheit einschaltete. Auf die Frage was besser hätte laufen sollen, antworteten einige der befragten Ärzte, dass sie sich gewünscht hätten, Unterstützung bei der Planung und Umsetzung der Notfall-Liste zu erhalten, z. B. in Form einer bindenden Richtlinie. Eine solche hätte sie in ihrer Verantwortung entlasten und ihnen Sicherheit geben können, alles – auch rechtlich – richtig zu machen [18]. Unter den Patienten herrschte eine große spontane Solidarität, die sowohl Ärzte als auch Vertreter der GGD beeindruckte. Einige Patienten verzichteten zugunsten der stärker betroffenen auf Teile ihres Cerezyme®. Andere Patienten setzten sich u. a. mithilfe der GGD für diejenigen ein, die bei verschlechtertem Allgemeinzustand und vereinzelt starken Knochenkomplikationen selbst nicht den Mut aufbrachten, sich für die Aufnahme auf die Notfall-Liste zu melden. Ein Patient äußerte sich im Interview zur Rangfolgenbildung der Notfall-Liste: „weil man natürlich denkt, okay, die hat es noch härter getroffen, also ist es auch legitim, dass die vorne anstehen bei der Notversorgung“ [22]. Dennoch lebten viele Patienten in ständiger Angst vor einer Verschlechterung ihrer Symptomatik und mit der Unsicherheit, wann sie ihre gewohnte Therapie wieder aufnehmen könnten [22]. Positiv bewerteten alle Beteiligten die Einbindung der Selbsthilfeorganisation GGD. Diese wurde von Anfang an über die Lieferengpässe der Firma Genzyme informiert und arbeitete als Anwalt der Patienten eng mit den Gaucher-Zentren und dem Hersteller zusammen. Die GGD versorgte die Patienten auf ihrer eigenen Homepage, per E-Mail oder Brief während der Engpässe mit den jeweils aktuellen Informationen. Zudem organisierte sie 2 Telefonkonferenzen, an denen Patienten, Vertreter von Genzyme Deutschland und Ärzte aus den Gaucher-Zentren teilnahmen. In diese Konferenzen konnten sich Patienten einwählen und direkt Fragen zum Lieferengpass und dessen Auswirkungen an die teilnehmenden Experten stellen. Aus Sicht des Vertreters der GGD hat die „wirklich außerordentlich gute“ [22] Zusammenarbeit zwischen den Pharmaunternehmen, den GaucherZentren und der Patientenorganisation dazu geführt, „dass die Situation, trotzdem sie extrem schwierig gewesen ist, […] nicht ganz so dramatisch und katastrophal war und vor allen Dingen sehr gut und organisiert abgelaufen ist [22]“. In dieser Ausnahmesituation habe von Anfang an das Wohl des Patienten im Fokus gestanden. Seiner Meinung nach sei die Lieferengpasssituation beispielhaft gelöst worden, wobei ihm insbesondere 2 Erlebnisse besonders beeindruckt hatten: „Das eine ist wirklich die Solidarität zwischen den Patienten zu Beginn des Lieferengpasses […] und das zweite, was mir sehr imponiert hat […], ist die Zusammenarbeit während des Lieferengpasses zwischen den einzelnen Behandlungszentren, der Pharmaindustrie und uns, der Gaucher Gesellschaft Deutschland [22]“.

Diskussion und Zusammenfassung



Die unvorhersehbare Knappheit eines im Einzelfall lebenswichtigen, jedenfalls aber sehr wirksamen und nützlichen Enzymersatzpräparats erzwang weltweit und auch in Deutschland eine

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Priorisierung aller bekannten Gaucher-Patienten mit der unmittelbaren Konsequenz einer harten Rationierung. Rationierung zeigte hier wieder ihr doppeltes Gesicht: einerseits bedeutete sie die Zuteilung knapper Rationen von Cerezyme® an besonders Bedürftige, andererseits beinhaltete sie das nicht risikofreie Vorenthalten dieses Präparats auch in Fällen, für die es noch ein größeres oder kleineres Nutzenpotenzial gehabt hätte. Unserer Kenntnis nach existierte kein Plan, kein vorbereitetes Programm zur organisierten Bewältigung dieser Versorgungskrise. Im Gegenteil: alle Reaktionen mussten in so kurzer Zeit ausgebildet werden, sodass es sich um quasi-reflexhafte Entscheidungen handelt. Sie zu rekonstruieren, ist vor allem vor dem Hintergrund des 2009/10 gängigen Vorwurfs herausfordernd, dass Priorisierung eo ipso unethisch und grundrechtsverletzend sei. An welchen Werten und Kriterien haben sich, konkret gefragt, hochspezialisierte Ärzte im Verbund mit ihren Patienten, deren Patientenorganisation und einem Hersteller „spontan“ orientiert, um eine riskante Knappheitssituation – in solido, d. h. gemeinschaftlich – zu bewältigen? Ganz offensichtlich haben sie zuerst den Schweregrad des M. Gaucher bei den ihnen meist wohlbekannten Patienten berücksichtigt. Ihre Priorisierung hat die Patienten bevorzugt, die aktuell besonders schwer erkrankt waren oder sich in einer besonders riskanten Situation (Schwangerschaft) befanden. Auf die Notfallliste kamen schließlich auch die Patienten, deren Krankheitszustand sich durch das Aussetzen ihrer Therapie deutlich verschlechterte. Für die Beurteilung waren sowohl klinische wie paraklinische Parameter maßgebend, dazu das Wissen um die „natürliche“ Prognose bestimmter M. Gaucher-Subgruppen. Dabei konnten sich alle Beteiligten auf die Wirksamkeit und das hohe Nutzenpotenzial des einzig relevanten aber jetzt knappen Medikaments verlassen. So haben sie eigentlich nicht Patienten bzw. Fälle priorisiert, sondern Indikationen, d. h. hier Verbindungen von typisierten klinischen Zuständen (s. o. Stufen 1–4) mit der einzigen damals (hoch) wirksamen Intervention, der Gabe von Cerezyme®. Es ist davon auszugehen, dass auch die Patienten über solches Wissen verfügten und es ihnen damit leichter fiel, den Notfallplan nicht nur zu akzeptieren, sondern auch zu unterstützen. Diese Priorisierung folgte damit – ohne davon Kenntnis zu haben – dem im schwedischen Modell prominenten Prinzip von „Bedarf und Solidarität“. Im 1997 erweiterten schwedischen Gesundheitsgesetz heißt es: „Die Menschen mit dem größten Bedarf an Gesundheitsleistungen haben Vorrang in der Versorgung“. Dieses Prinzip fand Akzeptanz auch bei den einzelnen Patienten, auch bei denen, die zurückstehen mussten, und ebenso bei der Patientenorganisation und beim Hersteller. Was wären Alternativen gewesen? Hätte man die größte Nutzensumme für die Gesellschaft im Auge gehabt, hätte man sich besser auf die erwerbstätigen Patienten konzentriert [23], bei denen eine Therapiepause zur Arbeits- bis Erwerbsunfähigkeit geführt hätte. Entfernt denkbar wären auch eine Lotterie gewesen oder eine exklusive Bevorzugung von Säuglingen und Kindern, von Personen mit besonderer familiärer Verantwortung oder mir herausgehobenen sozialen Positionen, von besonders Zahlungsfähigen/willigen oder von besonders zuverlässigen Patienten. Für jede dieser Optionen finden sich in der ethischen Literatur mehr oder weniger überzeugende Argumente. Hier fiel die Entscheidung ohne langes Nachdenken aber zugunsten des Prinzips von Bedarf und Solidarität. Dies zeigt, wie

tief dieses Prinzip in unserer Gesellschaft einschließlich der klinischen Medizin verankert ist. Eine weitere – praktische – Voraussetzung für die erfolgreiche und friedliche Bewältigung der Krise war die enge Zusammenarbeit und Solidarität der Zentren untereinander und die enge Kooperation mit der GGD. Diese wurde sicher dadurch befördert, dass die Anzahl der beteiligten Akteure begrenzt war und diese bereits im Vorfeld vertrauensvolle Beziehungen unterhielten. Das große Engagement der GGD wird dazu beigetragen haben, dass sich die Patienten in der schwierigen Situation des langwierigen Versorgungsengpasses stets gut informiert, ernst genommen und unterstützt fühlten. Mit der GGD hatten die Patienten neben den Ärzten aus den Gaucher-Zentren einen weiteren Ansprechpartner an ihrer Seite, welcher sich für sie einsetzte, z. B. wenn es um die Aufnahme von Patienten auf die Notfall-Liste ging. Methodenkritisch wäre hier zu überlegen, ob die Aktivitäten der GGD und der Ärzte aus den Gaucher-Zentren nicht zu positiv dargestellt wurden. Kommentare einzelner Patienten und der sie am Heimatort betreuenden niedergelassenen Ärzte waren für uns in dieser Studie nicht erreichbar. Die ärztlichen Interviewpartner merkten kritisch an, dass die Behörden sich während des Versorgungsengpasses nicht eingeschaltet hätten. Dies muss jedoch kein Nachteil gewesen sein. Die Einschaltung einer Behörde hätte sehr wahrscheinlich zu zusätzlichen zeitaufwendigen Klärungen, Abstimmungen und Absicherungen geführt und damit die dringende Versorgung der am meisten gefährdeten Patienten verzögert. Dennoch dürfte mangelnde Rechtssicherheit in Deutschland als eine Achillesferse des Prozesses angesehen werden. Für zukünftige ähnliche Fälle könnte deshalb, orientiert an dem hier vorgestellten Modell, z. B. von der Bundesärztekammer ein auch flexibler und rechtssicherer Aktionsplan entwickelt werden.

Interessenkonflikt: Die Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht. Literatur 1 Mistry PK, Cappellini MD, Lukina E et al. A reappraisal of Gaucher disease-diagnosis and disease management algorithms. In: American Journal of Hematology 2011; 86: 110–115 2 Zimran A. How I treat Gaucher disease. In: Blood online 2011 doi:10.1182/blood-2011-04-308890 3 Hollak CEM, vom Dahl S, Aerts JMFG et al. Force Majeure: Therapeutic measures in response to restricted supply of imiglucerase (Cerezyme) for patients with Gaucher Disease. In: Blood cells mol dis 2010; 44: 41–47 4 Raspe H, Schulze J. Medizinische Versorgung: Ärztlich unterstützte Priorisierung ist notwendig und hilfreich. In: Dtsch Arztebl 2013; 110: A-1091/B-947/C-944 5 Butterfield WJH. Priorities in medicine. Nuffield Provincial Hospital Trust 1968 (198 S.) 6 Pornak S, Meyer T, Raspe H. Priorisierung in der Medizin – Verlauf und Ergebnisse der dänischen Priorisierungsdebatte. In: Gesundheitswesen 2011; 73: 680–687 7 Raspe H, Meyer T. Priorisierung in der medizinischen Versorgung: Norwegen und seine Parlamentskommissionen. Nach einem Gespräch mit Prof. Dr. theol. Inge LØnning im November 2010. In: Gesundheitswesen 2012; 74: 45–48 8 Fleischhauer K. Probleme der Kostenbegrenzung im Gesundheitswesen durch Prioritätensetzung – ein Blick über die Grenzen. Jahrbuch Wissenschaft Ethik 1997; 2: 137–153 Raspe H: Priorisierung von rehabilitativen Leistungen: Anlässe, Methoden, Probleme. Deutsche Rentenversicherung 8/1997, 487-496 9 Zentrale Ethikkommission. Priorisierung medizinischer Leistungen im System der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). In: Dtsch Arztebl 2007; PP 6: 531–535

Hofstetter K et al. M. Gaucher und Imiglucerase … Gesundheitswesen 2015; 77: 86–92

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92 Originalarbeit 18 Interview mit Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin in Mainz; Interview durchgeführt am 15.11.2011 in Mainz 19 Mengel E. Engpass der Enzymersatztherapie mit Imiglucerase (Cerezyme®). In: go-schee brief, Ausgabe 2009; 24: 48–49 20 GGD. (2010). Im Internet http://www.ggd-ev.de/index/menuid/31/ reporeid/0/page/2 Stand: 10.12.2011 21 Mengel E. Versorgung der Gaucher Patienten mit Enzymersatztherapie. In: go-schee brief, Ausgabe 2010; 25: 38–40 22 Interview mit dem stellvertretenden Vorstandsvorsitzenden der GGD; Vorstandsmitglied der European Gaucher Alliance; Telefoninterview durchgeführt am 29.08.2011 23 Möglicherweise maximierte man in diesem speziellen Fall – vermutlich unbewusst – auch die „klinische“ Nutzensumme über alle Patienten. Dies liegt daran, dass Imiglucerase die Krankheit in eine nahezu vollständige Remission bringen kann. Wird die Therapie unterbrochen, dann kann es bei im Grunde schwer Betroffenen zu dramatischen Nutzenverlusten kommen – anders als etwa beim M. Pompe, bei dem die Enzymersatztherapie nur das Potential hat, die aktuelle Situation zu halten und einen weiteren Progress zu verhindern

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10 Deutscher Bundestag. Bericht der Enquete-Kommission Ethik und Recht in der modernen Medizin. Drucksache 15/5980 2005; Berlin: Deutscher Bundestag 11 Liesching F, Meyer T, Raspe H. Eine Analyse des nationalen öffentlichen Priorisierungsdiskurses in deutschen Printmedien. In: Zeitschrift für Evidenz, Fortbildung und Qualität im Gesundheitswesen 2012; 106: 389–396 12 Meyer T. Priorisierung in der medizinischen Versorgung – Diskussion in Deutschland – Praxis in Schweden 2012. Im Internet http:// www.provinz.bz.it/gesundheitswesen/download/Meyer.pdf Stand: 26.08.2013 13 Rieser S, Stüwe H. Interview mit Dr. med. Philipp Rösler (FDP), Bundesminister für Gesundheit „Ich kann nicht mehr Geld versprechen, aber ein faires System“. In: Dtsch Arztebl 2010; 107: A-215/B-191/C-187 14 Carlsson J. Nationale und regionale Priorisierung im schwedischen Gesundheitswesen: Erfahrungen aus der Kardiologie. In: Zeitschrift für ärztliche Fortbildung und Qualität im Gesundheitswesen 2012; 106: 435–442 15 Broqvist M, Brantig Elgstrand M, Carlsson P et al. National Model for Transparant Prioritisation in Swedish Health Care. Revised Version. National Centre for Priority Setting in Health Care 2011 16 Swedish Parliamentary Priorities Commission. Priorities in Health Care. Ethics, economy, implementation. Stockholm: SOU; 1995 17 Interview mit Facharzt für Innere Medizin und Gastroenterologie in Oberhausen; Telefoninterview durchgeführt am 06.11.2011; Interview mit Facharzt für Innere Medizin und Gastroenterolgie in Köln und Mitglied der EWGGD; Interview durchgeführt am 19.10.2011 in Köln; Interview mit Facharzt für Gastroenterologie in Hamburg; Interview durchgeführt am 02.09.2011 in Hamburg, Interview mit Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin in Mainz; Interview durchgeführt am 15.11.2011 in Mainz; Interview mit Stellvertretenden Vorstandsvorsitzender der GGD; Vorstandsmitglied der European Gaucher Alliance; Telefoninterview durchgeführt am 29.08.2011

2010: what leads to a suddenly enforced prioritisation?].

Gaucher's disease is, when left untreated, a progressive and in some subsets even life-threatening lysosomal storage disease. It is caused by a geneti...
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